Hundstage
9. Oktober 2018Es liegt eine vage Endzeitstimmung über den Brexit-Verhandlungen. Eine baldige Einigung sei möglich, hieß es aus britischen Quellen. Man sei sich sehr nah, sagen EU-Unterhändler. Alle halten also kurz die Luft an. Die Scheidungsvereinbarung soll so gut wie fertig sein bis auf das weiterhin unlösbare irische Grenzproblem. Ratspräsident Donald Tusk, der noch beim Gipfel in Salzburg als böser Onkel fungiert hatte, trat am Wochenende als Trostspender auf: "Ich habe eine Hoffnung, die an Sicherheit grenzt, dass wir am Ende eine Scheidungsvereinbarung haben werden". Und auch Jean-Claude Juncker erklärte: "Das Potential für eine Annäherung ist in den letzten Tagen gestiegen".
Es ist wie Fiebermessen bei einem schwer Grippekranken. Einen Moment lang scheint sich die Lage zu bessern, dann wieder gibt es einen Rückschlag. Bis zur letzten Minute blieb zum Beispiel unklar, ob die EU-Kommission bei ihrem Treffen am Mittwoch die Trennungsvereinbarung und den Umriss der sogenannten politischen Erklärung absegnen würde. Dann wurde die Absage bestätigt, weil man doch noch nicht so weit ist. Die sogenannte Erklärung soll das zukünftige Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien beschreiben. Sie besteht bislang aus "Schlagwörtern mit Anmerkungen". Die Einzelheiten werden erst in der Übergangsperiode ab April nächsten Jahres verhandelt, so dass Theresa May ihren Bürgern um Weihnachten herum den Brexit als "Weihnachts-Hohlkörper" auf den Gabentisch legen muss.
An schönen Worten soll es dabei auf den geplanten zehn bis 20 Seiten nicht mangeln: Jede Wette dass massenhaft "nahe Verbundenheit, langjährige Freundschaft, tiefe Partnerschaft und enge Zusammenarbeit" darin vorkommen. Allerdings ist dieses Papier eine politische Absichtserklärung ohne Rechtsverbindlichkeit. Die Europäer wollen sich offen halten, wie innig die Nähe zu den Briten künftig tatsächlich sein soll. Angesichts der politischen Achterbahnfahrt in London seit dem Referendum halten Diplomaten das für eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme.
Blutrote Linien in Nordirland
Böse Zungen behaupten, Parteichefin Arlene Foster von der nordirischen DUP sei Theresa May's Boss. Klar ist jedenfalls, dass von der Mehrheitsbeschafferin in Westminster die Zukunft der Premierministerin und des Brexit abhängt. Natürlich gibt es weitere Gefahren, wie jene obskure Gruppe von 40 harten Brexiteers unter den Konservativen, die bereit sein sollen May zu stürzen, wenn ein Weichei-Brexit droht. Was aber die DUP angeht, so wusste vor der unseligen Parlamentswahl im Frühjahr 2017 niemand in Europa, wer oder was die "Democratic Unionist Party" ist. Sie galt als politisch irrelevante Sekte. Inzwischen aber tourt Arlene Foster durch Brüssel und erklärt Brexit-Unterhändler Michel Barnier ihre "blutroten Linien". Einfach rot reicht hier nicht, in Nordirland ist immer Blut im Spiel.
Die Parteichefin steht für dreizehn Prozent der Wähler in Nordirland und vertritt umgerechnet nur ein Prozent der Briten insgesamt. Beim Brexit geht es ja generell darum, die Kontrolle von der EU zurückzuholen. Selbst wenn diese dann bei einer Splitterpartei in Nordirland landet. Hauptsache sie ist den Brüsseler Eurokraten entrissen.
Was die blutroten Linien angeht, so dürfe eine Brexit-Vereinbarung keine regulatorischen oder Zollbarrieren zwischen Nordirland und dem Königreich errichten, bekräftigt Forster. Genauso wenig wie zwischen Nordirland und EU-Mitglied Irland, weil es ja keine sichtbare Grenze zwischen beiden geben darf. Da aber Theresa May die Zollunion verlassen will, ist eine Lösung logisch unmöglich. Das ist alles dutzende Male gedreht und gewendet worden. Barnier bietet nun all seinen Charme auf, um die Grenzfrage im Sinne der EU zu "entdramatisieren".
Aber den Unionisten geht es hier um's Prinzip. Nichts in Nordirland dürfe anders sein als im Rest von Brexit-Großbritannien. Wohlmeinende Beobachter sehen irgendwo in den Bemerkungen von Arlene Foster Interpretationsspielraum. Eine zu intensive Beobachtung des Brexit-Prozesses führt wohl zu optischen Täuschungen.
In Birmingham ließ der Kongress tanzen
Was hatten sie Theresa May nur in den Tee gekippt, dass sie sich überzeugen ließ, zu Abbas "Dancing Queen" in die Parteitagshalle in Birmingham zu tänzeln? Und kann man sich so etwas bei Angela Merkel vorstellen? Die Bundeskanzlerin würde sich wohl nicht einmal mit vorgehaltener Waffe zu einer Tanzeinlage auf dem CDU-Parteitag hinreißen lassen. Aber die britische Premierministerin ließ sich wohl überzeugen, dass ihre einzige Überlebenschance gegen die Angriffe der Brexiteers Boris Johnson und Rees-Mogg eine unglaublich lockere Show wäre - und das Konzept ging auf. Theresa May wirkte weniger verkrampft als sonst, was wohl auch auf die Tanzeinlagen zurückzuführen ist.
Sie sprach auch über das eine oder andere innenpolitische Problem, das die Menschen wirklich umtreibt. Die drängende Wohnungsnot zum Beispiel, bei der sie irgendwie Hilfe versprach. Und die Kürzungen in den öffentlichen Leistungen, die viele Briten in den letzten Jahren bitter zu spüren bekamen. Also schwor die Premierministerin, sie werde die jahrelange Sparpolitik beenden. Aber die Bürger sind zynisch geworden, wenn es um die Ankündigungspolitik der Regierung geht; Begeisterungsstürme blieben jedenfalls aus. Vielen ist wohl klar, dass May da Geld verteilen will, das sie möglicherweise nach dem Brexit gar nicht mehr hat.
Womit man bei der gähnenden Leerstelle in Mays Rede wäre. Keinmal erwähnte sie nämlich das schlimme Wort "Chequers". Jenen Vorschlag, der bei dem Kabinettstreffen auf dem gleichnamigen Landsitz beschlossen worden war und den die EU in Salzburg so unmissverständlich abgelehnt hatte. Sie sprach nur noch von "unserem Vorschlag", was darauf hindeutet, dass sie mit einem ähnlichen Plan anderen Namens in die nächste Verhandlungsrunde in Brüssel gehen wird. Da hofft sie dann, dass alle gesichtswahrend Ja sagen können, wenn "Chequers" in "Apfelkuchen" umbenannt wird. Aber sicher ist das natürlich nicht. Die Parteichefin enthielt ihrer Basis vor, was sie wirklich im Schilde führt. Weil sie selbst eben auch nicht genau weiß, womit sie am Ende bei der EU durchkommt. Und sie ließ die allerwichtigste Frage völlig offen: Wann kommen die "besten Tage", die angeblich noch vor den Briten liegen?
Hunde, wollt ihr diesen Brexit?
Rund 1.000 Hunde protestierten mit ihren Frauchen und Herrchen an diesem Sonntag in London gegen den Brexit. Geschmückt in EU-Farben oder als Träger kleiner Protestplakate zeigten sich die Kläffer als wahre Europäer. Besonders an den Pinkelstationen herrschte Andrang, wo sie sich an Bildern von Ober-Brexiteers wie Boris Johnson oder Jacob Rees-Mogg erleichtern konnten. Die Veranstaltung sollte den Ruf nach einem zweiten Referendum stärken und machte deutlich, was manche längst ahnten: Der Brexit ist auf den Hund gekommen.
Brexit Zitat der Woche
Teile der britischen Presse waren schon wieder richtig pikiert. Hat sich der Kommissionspräsident da etwa über Theresa May und ihre Tanzeinlage in Birmingham lustig gemacht, als er sich am Montag zu Beginn seiner Rede leicht im Takt wiegte? Sein Sprecher Margaritis Schinas beruhigte schnell die Aufregung über mutmaßliche Respektlosigkeiten gegenüber der britischen Regierungschefin: "Was wäre unser Leben ohne Tanz und Gesang …?" gab der Grieche zu bedenken. Und ein Brexit ohne Humor wäre darüber hinaus ganz und gar unerträglich.