Brexit Tagebuch 7: Der Sommer des magischen Denkens
29. August 2017"Die Brexit-Verhandlungen laufen unglaublich gut." Mit dieser Antwort riss vor ungefähr zwei Wochen der Brexit-Minister die Zuhörer des BBC-Programms "Today" aus ihrer Morgenruhe. Weil das im Radio stattfand, konnte man leider nicht sehen, wie dem Interviewer der Unterkiefer herunterfiel. Hatte David Davis was genommen oder war er durch Selbstsuggestion zu dieser verblüffenden Schlussfolgerung gekommen? Es muss ein Fall von magischem Denken sein. EU-Diplomaten unterstellen inzwischen den Briten, diese Art von politischem Voodoo zu betreiben.
Ärmel aufkrempeln!
Der britische Verhandlungsführer erklärte auch, warum es so lange gedauert habe, in Brüssel etwas auf den Tisch zu legen: "Die einfache Wahrheit ist, dass wir zwölf Monate gebraucht haben, um Vorschläge zu erarbeiten, die einfach unglaublich komplex sind." Und wenn man aus ihnen teilweise nur schwer ablesen konnte, was die Regierung mit ihnen bezweckte, so sei das Absicht: "Das ist konstruktive Mehrdeutigkeit." Man muss die Gegenseite in Brüssel im Ungewissen lassen, sonst könnten sie noch glauben, wir hätten einen Plan. Aber wir haben eine Strategie: Und die ist, EU-Unterhändler Barnier und seine Helfer zu verunsichern.
In Brüssel zur dritten Verhandlungsrunde angekommen, schlug David Davis dann vor, die Ärmel aufzukrempeln und sich an die Arbeit zu machen. Diese Woche wird zeigen, ob das eine leere Drohung war.
Der Herausforderer
Während Theresa May ihren Urlaub mit einer Wandertour in der Schweiz verbrachte, dachte ihre Partei darüber nach, wer vielleicht ihren Job übernehmen könnte. Und sie ging mit einer unerwarteten Idee und einem wirklich frischen Gesicht an die Öffentlichkeit: Jacob Rees-Mogg, ein konservativer Abgeordneter, der auch als Mitglied des Unterhauses für das 18. Jahrhundert bekannt ist. Er ist Sohn des gleichermaßen traditionalistischen Abgeordneten William Rees-Mogg - jahrzehntelang Spezialist für königliche Hochzeiten und Todesfälle, sowie die Wurzeln alles Britischen.
Rees-Mogg junior ist von exquisiter Höflichkeit, vertritt vorsteinzeitliche politische Ansichten und trägt doppelreihige Anzüge. In einer Umfrage unter konservativen Parteimitgliedern schoss er von Null auf den dritten Platz als möglicher Premierminister, gleich hinter David Davis und Boris Johnson. Sogar in der konservativen "Times" meinte ein Kommentator, dieser Gruß aus der Vergangenheit könne die falsche politische Botschaft sein. Aber was den verblüffenden Erfolg von Ress-Mogg in den sozialen Medien schuf, ist seine Haltung als knallharter Brexiteer. Er macht keine Kompromisse, während inzwischen sogar Boris Johnson einräumt, man müsse der EU für den Ausstieg wohl was zahlen und David Davis in Verdacht steht, am Ende doch Deals zu machen.
Nicht ohne den Europäischen Gerichtshof
Einer dieser Kompromisse muss wohl beim Thema Europäischer Gerichtshof gemacht werden. Vor einem Jahr hatte Theresa May ihre rote Linie gezogen und den Einfluss des EuGH nach dem Brexit für beendet erklärt. Aber das Leben ist kompliziert. Inzwischen stellte sich heraus, dass weder bei den Rechten für EU-Bürger, noch bei einer Übergangsregelung ab 2019 oder den Grenzkontrollen irgendeine Vereinbarung ohne juristische Aufsicht geschlossen werden kann.
Die Lösung könnte in einer Anbindung Großbritanniens an das EFTA-Gericht liegen, das etwa über Streitigkeiten zwischen Island und der EU entscheidet. Zwar richtet es sich auch nach der Rechtsprechung in Luxemburg, gilt aber immerhin als getrennte Institution. London hat angedeutet, da ließe sich ein Kompromiss finden. Wenn die Premierministerin da die Rechnung mal nicht ohne Rees-Mogg gemacht hat: Der neue politische Spieler kann ihr angesichts ihrer knappen Mehrheit durchaus das Spiel verderben. Er lehnt jeden Einfluss des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg kategorisch ab, auch durch die Hintertür.
Der Ultra-Konservative nutzt den Streit über das Gericht, um die Themen Souveränität und Kontrolle im Brexit-Lager hoch zu kochen, wo beides als entscheidend gesehen wird. Die internen Kämpfe in Theresa Mays Regierung und in ihrer Partei lassen inzwischen den nahen Osten geradezu friedlich erscheinen.
Noch mehr magisches Denken
Es gab natürlich über den Sommer noch weitere Positionspapiere. Eines etwa zur Zukunft der Zollunion mit der EU. Im Prinzip wird vorgeschlagen, dass alles bleibt wie es ist, nur ohne die hässlichen Sachen. Großbritannien müsste weniger EU-Regeln einhalten und könnte viele schöne neue Handelsabkommen abschließen, mit wem auch immer. Und der grenzüberschreitende Verkehr wäre natürlich reibungslos - was auch sonst.
Dann gab es auch einen Vorschlag für Irland: London will keine Grenzkontrollen zwischen der Republik Irland und Nordirland, weil die den Friedensprozess stören würde. Aber eine EU-Außengrenze durch die Irische See, wie Ministerpräsident Varadkar in Dublin vorschlug, wollen die Briten auch nicht. Das würde nach einem wiedervereinigten Irland riechen – undenkbar! Außerdem würde so ein Vorschlag sofort von der nordirischen DUP gekippt, Theresa Mays Mehrheitsbeschaffern.
London schlägt also eine Grenze vor, die zwar zwischen Irland und Nordirland verläuft, die aber unsichtbar ist und keine Grenzkontrollen hat. Irgendeine Wunder-Technologie registriert die Lastwagen und die Leute, ohne dass jemand das bemerkt. Es ist Magie, ohne Zweifel.
Das Chapman-Geheimnis
Der spektakulärste Verräter im Brexit-Lager war in diesem Sommer James Chapman. Der frühere Kabinettschef von David Davis sprang mit einem Gewitter von Tweets auf die Bühne, nannte seinen Ex-Chef eine faule Sau und den Brexit eine blöde Idee. Ein Jahr, so schrieb Chapman, habe er sich bemüht den Brexit umzusetzen. Aber aus dem "Projekt Angst" der früheren Remain-Kampagne sei das "Projekt Tatsachen" geworden. Denn die Wirtschaftsdaten zeigten, dass alle Befürchtungen wahr würden. In der nächsten Woche wollte Chapman eine neue Partei gründen, die "Demokraten". Und dann hörte man nichts mehr von ihm. Er verschwand vom Gesicht der Erde und aus den Sozialen Medien.
Jetzt spekuliert das Lager der EU-Freunde heftig, was passiert sein könnte:
Hat jemand Chapmans Twitter Account gehackt, hat das Brexit-Ministerium ihm einen juristischen Maulkorb verpasst, hatte er einen Nervenzusammenbruch? Es ist Material für einen neuen TV-Thriller.
Und schließlich:
Seit vier Monaten beschäftigt sich die britische Regierung damit, mit sich selbst zu verhandeln.
Inzwischen sind es schon fünf Monate.