Botschafterin des guten Willens
8. Januar 2020"Jetzt ist die Zeit, nach vorne zu schauen", so flötet Ursula von der Leyen bei ihrer Ansprache an der "London School of Economics" aus Anlass ihres Besuchs beim britischen Premier, "damit die besten und ältesten Freunde gemeinsam eine neue Zukunft bauen". Es fehlten nur Geigen im Hintergrund, um ihre Worte wie eine Liebeserklärung zur Hochzeit und nicht wie den Auftakt zur Güteraufteilung nach der Scheidung erscheinen zu lassen. Aber unter dem Süßholz verbirgt sich Stahl: "Großbritannien wird zu einem Drittland", und "nichts werde mehr sein wie zuvor".
EU reicht den Briten die Hand
Von der Leyen beginnt ausdrücklich mit dem Positiven: Großbritannien und die EU teilten weiter Werte und Interessen, wie auch Geographie und Geschichte. In der Außen- und Sicherheitspolitik etwa hofft sie, dass es weiter die Möglichkeit zu gemeinsamen Antworten auf nahe wie ferne Bedrohungen und Herausforderungen geben werde. So sollen die Briten weiter an europäischen Initiativen und Missionen teilhaben können.
Bei den Wirtschaftsbeziehungen sagt die Präsidentin, man sei bereit, eine neue Partnerschaft aufzubauen auf der Basis von "Null-Zöllen, Null-Quoten, Null-Dumping". Eine solche Partnerschaft sei bislang ohne Vorbild und könne alles umfassen, von Klima- über Datenschutz, von Fischerei bis Energie, Transport und Raumfahrt, Finanzdienstleistungen und Sicherheit. Man wolle Tag und Nacht arbeiten, um so viel wie möglich davon im gegebenen Zeitrahmen zu schaffen.
Allerdings macht sie später bei den Zuschauerfragen deutlich, dass es "unmöglich ist, ein umfassendes Handelsabkommen" noch im Laufe dieses Jahres abzuschließen, in dem Zeitraum, den Premier Boris Johnson dafür festgesetzt hat. Der betonte vor dem Treffen mit der Kommissionschefin erneut, er werde notfalls die Union Ende des Jahres ohne Abkommen verlassen. Allerdings sind bereits Auswege im Gespräch: Man könne Prioritäten setzen, gewisse Probleme ausklammern und später behandeln. Die EU geht weiter davon aus, dass die Briten mehr unter einem Crash-Ausstieg leiden als die Europäer.
Warnungen hinter dem Liebesgeflüster
Darunter lag jedoch die klare Botschaft, dass Großbritannien nach dem Brexit ein Drittland ist und nichts mehr sein werde wie zuvor: "Je mehr Abweichungen (von den Regeln der EU) es gibt, desto entfernter muss die Partnerschaft werden. Und ohne eine Verlängerung der Übergangsphase über 2020 hinaus können wir nicht jeden Aspekt unserer neuen Partnerschaft vereinbaren." Die Ziele der EU seien dabei klar: Sie wolle ihre Integrität wahren, den Binnenmarkt und ihre Zollunion. Da gebe es keine Kompromisse.
Hier macht die Kommissionspräsidentin deutlich, dass die britische Regierung am Ende Entscheidungen treffen muss. Das Prinzip heißt: Je mehr Regeltreue, desto mehr Marktzugang - und umgekehrt. Wenn Boris Johnson also nur ein einfaches Freihandelsabkommen anstrebt und sich beliebig von europäischen Regulierungen entfernen will, dann schafft er damit Zugangsprobleme für die britische Wirtschaft gegenüber ihrem größtem Markt, dem der europäischen Union.
Dabei sprach Ursula von der Leyen gleich das empfindlichste Thema an: die Finanzdienstleistungen. Hier könne es etwa in einigen Bereichen Äquivalenzregelungen geben, über die die EU entscheiden werde - unter Berücksichtigung ihrer Interessen. Das ist ein klarer Hinweis auf Zugeständnisse, die die britische Seite machen muss, wenn sie weiter Bankdienstleistungen oder Versicherungen im EU-Raum anbieten will. Hier liegen die großen Tretminen bei den künftigen Gesprächen, die hart und bitter werden dürften, egal wieviel Honig sich beide Seiten derzeit um den Bart streichen.
Verhandlungsbeginn im Februar
Gleich nach dem vollzogenen Brexit, also schon Anfang Februar, beginnen die Gespräche unter Führung des erfahrenen EU-Diplomaten Michel Barnier. Er hat nach den Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre wohl keine Illusionen, was auf ihn zukommt. "Wir werden an unsere strategischen Interessen denken" erklärte Barnier in einem Zeitungsinterview mit dem Telegraph zuletzt. "Wir wissen, dass, wenn wir bei sozialen und Umweltstandards in den Wettbewerb treten, statt bei Fähigkeiten, Innovation und Qualität, ein Wettrennen nach unten die Folge ist", bei dem alle verlieren würden. Das ist eine klare, wenn auch höfliche Absage an Boris Johnsons Ankündigung, er wolle EU-Regeln nach dem Brexit nicht mehr beachten.
Im Mittelpunkt der künftigen Gespräche stehen fünf Wirtschaftsbereiche: Der Finanzmarkt, den Warenverkehr, die Landwirtschaft, der Datenaustausch und die Fischerei. Ökonomisch am wichtigsten ist dabei der Finanzmarkt mit einem Exportwert von rund 30 Milliarden Euro in der EU. Hier hat Brüssel besonders viel Hebelwirkung, den Briten Zugeständnisse abzuringen.
Beim Güterverkehr und den Zöllen geht es um die Anerkennung von EU-Regeln. Will Boris Johnson tatsächlich wesentlich davon abweichen, begrenzt er damit scharf die Ausfuhrmöglichkeiten für britische Produkte. Auch der Datenverkehr birgt neue Schwierigkeiten: Wenn Großbritannien europäischen Datenschutzregeln nicht mehr folgen will, würde der grenzüberschreitende Informationsfluss zwischen Firmen und den Regierungen stocken.
Bei der Landwirtschaft geht es vor allem um Lebensmittelsicherheit und Verbraucherschutz - hier könnte die britische Seite vor der Entscheidung zwischen US-Chlorhühnchen und Einhaltung von EU-Vorschriften stehen. Und schließlich die Fischerei: Sie ist wirtschaftlich unbedeutend, aber für die EU regional und für die Briten symbolisch wichtig. Hier werden vermutlich viele Stellvertreterkriege geführt werden. Selbst ein kurzer Blick auf diese Verhandlungsfelder zeigt, wie explosiv und kompliziert die Gespräche über das künftige Verhältnis – jenseits der politischen Rhetorik – tatsächlich werden.
Nach dem Gespräch mit dem Premier: Kein Kommentar
Nach dem Treffen mit Premier Johnson am frühen Abend war Ursula von der Leyen zu keiner Stellungnahme bereit. Immerhin: Aus Johnsons Büro verlautete, man habe ein "positives Treffen" gehabt. Er habe jedoch darauf bestanden, dass es keine Fristverlängerung über den 31. Dezember hinaus geben würde.