Gefährliche Blindgänger in Deutschland
2. Dezember 2011Die großräumige Evakuierung nach einem Bombenfund im Rhein bei Koblenz (04.12.2011) ruft ins Gedächtnis, wie groß die Bedrohung durch Blindgänger in Deutschland nach wie vor ist.
Kampfmittelbeseitigung ist Ländersache
Während des Zweiten Weltkrieges wurden etwa 1,6 Millionen Bomben auf Deutschland abgeworfen. Nach unterschiedlichen Schätzungen sind davon zwischen 5 und 15 Prozent nicht detoniert. Jahrzehnte später liegen also noch Zehntausende von Blindgängern im Erdreich und müssen von Spezialisten entsorgt werden. Das ist Aufgabe der Länder, die einen großen Teil der Arbeit an spezialisierte Fremdfirmen abgeben, die Kampfmittel entschärfen und mit großem Aufwand Munition unschädlich machen. Da es keine Bundeseinrichtung gibt, die sich um die Beseitigung der Kampfmittel kümmert, gibt es auch keine staatliche Statistik, sondern nur Angaben der jeweiligen Bundesländer. Die können jedoch nur über ihre gefundenen Blindgänger konkrete Angaben machen, nicht über das, was sich noch im Boden und in Flüssen versteckt. Bomben und Munition werden im Laufe der Zeit nicht ungefährlicher. Im Gegenteil, Alter und Rost können die Gefahr noch erhöhen.
Die Waffenschmiede sollte zerstört werden
Das Land Nordrhein-Westfalen als das industrielle Zentrum des früheren Deutschen Reiches wurde besonders stark bombardiert. Das Innenministerium in Düsseldorf geht von 500.000 bis 700.000 Tonnen Bombenmaterial aus, das hier abgeworfen wurde. Nach einer Schätzung wurden seit 1966 rund 20.000 Bomben in speziellen Betrieben in Nordrhein-Westfalen vernichtet. Die Bruttomasse der entschärften Blindgänger liegt im Schnitt der letzten zehn Jahre bei rund 65 Tonnen jährlich. Da es aber bisher keine Technik gibt, mit der Bomben und Munition sicher geortet werden können, liegt vieles noch unerkannt im Boden. Eine Sprecherin des nordrhein-westfälischen Innenministeriums fasst die Lage so zusammen: "Es wird noch 2000 Jahre dauern, bis der letzte Blindgänger aus der Erde geholt ist."
Auch wenn eine sichere Technik noch fehlt, versucht der Kampfmittelräumdienst jedes Bundeslandes Bomben zu orten. Hier spielt die Luftbildauswertung eine herausragende Rolle. Die Alliierten hatten im Zweiten Weltkrieg zur Vorbereitung und Kontrolle ihrer Luftangriffe Aufklärungsphotos der betroffenen Regionen aufgenommen. Diese Aufnahmen zeigen, wo schwerpunktmäßig Kampfmittel abgeworfen wurden. Etwa 330.000 dieser Bilder, die nach dem Zweiten Weltkrieg in britischen und amerikanischen Archiven aufbewahrt wurden, stehen heute zur Verfügung.
Die genaue Zahl der Bomben kennt niemand
In Hamburg geht man von 107.000 Sprengbomben aus, die auf dem Gebiet der Hansestadt abgeworfen wurden. 14.000 davon, so schätzt man, waren Blindgänger. 66 Jahre nach Kriegsende liegen vermutlich noch rund 3000 Bomben auf Hamburger Gebiet. Derartig konkrete Zahlenangaben sind selten. Horst Lenz, Leiter des Kampfmittelräumdienstes sagt dezidiert: "Jede Zahl ist Spekulation, niemand weiß wirklich etwas Genaues."
Immer wieder kam es in der Vergangenheit zu spektakulären Bombenfunden und verheerenden Explosionen: Im Juni 2010 kamen in Göttingen drei Sprengstoffexperten ums Leben, als mitten in der Stadt eine Bombe kurz vor ihrer geplanten Entschärfung explodierte.
Im Oktober 2011 wurde nach dem Fund eines Blindgängers die Innenstadt von Halle in Sachsen-Anhalt komplett evakuiert. Etwa 20.000 Menschen waren betroffen, darunter 1000 Patienten und Mitarbeiter einer Klinik. Im Januar des Jahres mussten 11.500 Menschen ihre Wohnungen in Hannover verlassen, weil zwei Blindgänger entschärft und gesprengt wurden. Die Autobahn 2 und die Bahnstrecke bei Hannover wurden gesperrt.
Im Dezember 2005 wurde mit einer kontrollierten Sprengung im Zentrum Berlins eine britische 500-Kilo-Bombe unschädlich gemacht. Bauarbeiter hatten sie auf dem Boulevard "Unter den Linden" entdeckt. Straßensperrungen verursachten ein Verkehrschaos.
Die Politik muss handeln
Professor Wolfgang Spyra, Inhaber des Lehrstuhls für "Militärische Altlasten" der TU Chemnitz ist weit und breit der einzige Spezialist in Sachen Kampfmittelbeseitigung. Er hat in Oranienburg die bisher einzige Studie durchgeführt, mit der herausgefunden werden sollte, wie viele Blindgänger die einheimische Bevölkerung noch bedrohen. Auch Spyra betont, dass es genaue Zahlen zu den noch existierenden Bomben in Deutschland nicht gibt. Alles sei mehr oder minder vage Schätzung. Seine klare Forderung: "Der Staat muss umfassende Studien durchführen, um Unfälle mit Bomben in der Zukunft zu vermeiden."
Autor: Günther Birkenstock
Redaktion: Arne Lichtenberg