"Konfliktlösung ist in der Krise"
21. Mai 2014Deutsche Welle: Mitten in der Ukraine-Krise testet Russland eine Langstreckenrakete. Die USA verlegen Kriegsschiffe ins Schwarze Meer und Kampfflugzeuge nach Litauen und Polen. Auch andere NATO-Länder ziehen Truppen an ihre Ostgrenze. Sind das Routine-Übungen oder Drohgebärden?
Michael Brzoska: Das ist eine Mischung. Aktivitäten wie die Manöver russischer Truppen an der Ostgrenze der Ukraine sind kurzfristig angekündigt worden. Ein Teil dieser Maßnahmen ist hingegen schon seit Langem angekündigt, etwa die Tests von Raketen, die auch Atomwaffen tragen können. Aber auch Maßnahmen, die schon langfristig beschlossen waren, kann man natürlich aussetzen.
Alle diese Dinge sind immer auch Teil der Kommunikation zwischen Beteiligten an einer Krise. Man sendet Signale verschiedenster Art, die man möglicherweise gezielt einsetzt, die möglicherweise aber auch unbeabsichtigt gesendet werden und die von der anderen Seite richtig oder falsch verstanden werden. Insofern sind solche Aktivitäten immer eine wichtige Nebenerscheinung von Konflikten, die sowohl zur Eskalation, aber auch zur Deeskalation beitragen können.
Handelt es sich in vielen Fällen dieser Kommunikation nicht einfach um reine Symbolik, beispielsweise wenn die NATO ein paar Hundert Soldaten mehr an der Ostgrenze schickt?
Reine Symbolik ist ein missverständlicher Begriff. Symbolik ist sehr wichtig. Krisen haben reale Gründe: Es geht um materielle Dinge, es geht um Geopolitik, es geht um Interessen, es geht um Verteilung von Ressourcen. Aber Krisen sind vor allen Dingen auch etwas, was konstruiert wird. Das ist etwas, was viel mit der Interpretation des Verhaltens der anderen Seite und der Mobilisierung der eigenen Unterstützer zu tun hat. Und da spielt Symbolik eine enorm wichtige Rolle.
Welche Instrumente nutzen die Hauptakteure bei Krisen noch?
Der militärische Bereich ist schon sehr wichtig. Der Gegenpol ist die Diplomatie. Das ist etwas, was oft gar nicht so bekannt wird. Es gibt dann häufig Gesprächskreise, die eher unter Diplomaten an verschiedenen Orten stattfinden, aber auch in kleinem Rahmen lokale Gesprächsrunden in Krisenregionen.
Dazwischen gibt es natürlich auch noch einige andere Dinge: Die Wirtschaft, aber auch der Bereich der Bildung und Wissenschaft. Heute ist es so, dass auch die Medien eine große Rolle spielen. Die beteiligten Akteure versuchen, ihre Position so darzustellen, dass möglichst viele Menschen in verschiedenen Ländern diese Position unterstützen. Es findet also ein Popularitätswettbewerb um Unterstützung statt.
Folgen die Abläufe internationaler Krisen einem bestimmten Muster?
Man kann schon so etwas wie eine Grammatik von Konflikten erkennen. Die laufen nicht immer einheitlich ab, aber es muss strukturelle Probleme geben, die dann die Krise auslösen. Dieser Funken wird dann von der anderen Seite aufgenommen und ebenfalls als Maßnahme zur Intensivierung der Krise verstanden. Und so schaukelt es sich dann gegenseitig hoch. Ganz besonders problematisch wird es dann, wenn es auch Tote gibt - wie beispielsweise jetzt in der Ukraine. Dann wird es sehr schwer, solche Konflikte im Rahmen zu halten und sie nicht weiter eskalieren zu lassen. Aber auch das ist dann immer noch möglich. Irgendwann versuchen beide Seiten, den Konflikt zu internationalisieren. Früher war es sehr einfach: Man war während des Kalten Krieges entweder im westlichen oder östlichen Lager. Das ist eine Sache, die vor allem in den letzten 20 Jahren sehr komplex geworden ist.
Droht eher eine Eskalation, je komplexer Krisen sind und je mehr Akteure beteiligt sind?
Ja. Aber es ist auch ein Gegentrend seit dem Ende des Kalten Krieges wichtig geworden: Es gibt immer häufiger starke internationale Bemühungen, diese Krisen einzudämmen. Es gibt einen weitgehenden Konsens unter den Großen, dass man nicht möchte, dass Krisen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen eskalieren, weil damit auch die Interessen der Großen meist eher geschädigt werden. Die Ukraine-Krise könnte das allerdings wieder verändern.
Versagen in Konflikten wie in der Ukraine die Deeskalationsmechanismen, die nach dem Kalten Krieg über Jahre aufgebaut wurden?
In den letzten 20 Jahren hatten wir eine enorme Ausweitung des Peacekeepings, der Sanktionen, der Interventionen auch auf diplomatischer Ebene von verschiedenen multilateralen Organisationen, angefangen von den Vereinten Nationen über die OSZE bis zur Afrikanischen Union. Es gab auch sehr viel mehr humanitäre Hilfe. Diese positive Entwicklung setzt sich im Moment nicht fort. Wir sind in einer Situation, in der die internationale Gemeinschaft diese Konfliktlösungsinstrumente immer weniger nutzt.
Hinzu kommt ein anderer Punkt: In Europa hat man in den letzten 15 Jahren viele Konflikte eingefroren. Das sind alles Konflikte, die aus den frühen 1990er-Jahren stammen: Moldawien, Transnistrien, Berg-Karabach, Georgien und jetzt auch in der Ukraine. Das sind alles Dinge, die zehn bis 20 Jahre mehr oder weniger geschlummert haben und die jetzt aufgrund der veränderten Weltlage und der aktuellen Konfrontation doch wieder zum Vorschein kommen. So sehen wir es auch in anderen Regionen.
Wenn wir auf die strukturellen Probleme zurückkommen, die letztendlich immer am Grund dieser Konflikte liegen: Da ist zwar eine Menge passiert, aber eben in vielen Weltregionen zu wenig. Es ist immer noch so, dass wir fast eine Milliarde Menschen haben, die am Existenzminimum leben. Es ist immer noch so, dass die Einkommensverteilung in der Welt sehr ungleich ist. Das heißt, der Boden dafür, dass es mehr Konflikte gibt, der ist eindeutig da. Die Konfliktlösungsmechanismen, die es gegeben hat, sind im Moment etwas in die Krise geraten.
Michael Brzoska ist Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) in Hamburg.
Das Gespräch führte Sven Pöhle