Bukarest im Konjunktiv
8. Juni 2018Wenn man sich mit Bukarest beschäftigt, so wie ich es seit einiger Zeit tue, stellt sich einem unweigerlich die Frage: Was wäre wenn? Wenn die rote Diktatur in den Fünfzigern dieser Stadt nicht mit einem Ring aus billigen, vorgefertigten Mietskasernen - monumental in ihrer Hässlichkeit - die Luft abgeschnürt hätte. Es entstanden damals die Arbeiterviertel für den ersehnten Sprung in die industrielle Zukunft. Und für den ebenso ersehnten modernen sozialistischen Menschen, seiner Individualität und Traditionen beraubt.
Für die Bauernsöhne und -töchter, die in die ästhetische und gesellschaftliche Einöde einzogen, waren die Wohnungen mit Kanalisation und elektrischem Strom sogar eine Verbesserung ihrer Lebensumstände. Aber gezwungen dort zu wohnen, wurden auch viele Bewohner der Stadt, deren Häuser dafür abgerissen worden waren. Für sie war es eher traumatisch. So ist der Umfahrungsring um das Zentrum der Stadt dort entstanden, wo früher kleine Händler und Handwerker ihre Häuser, Geschäfte und Gärten hatten. Eine groteske Verzerrung des urbanen Raums fand statt, heute stehen dort nahtlos aneinandergefügt riesige Plattenbauten wie die Mauern eines Kanals, durch den der Verkehr geschleust wird.
Die Vertreibung der Büffel
Viele neue Viertel wurden nicht einfach auf freiem Feld gebaut, das auch, sondern auf ehemaligen Bauernhöfen und Dörfern, die dafür weichen mussten. So ist Titan, eines der größten Viertel, auf dem Gebiet zweier Dörfer gesetzt worden: in Dudesti lebten mehrheitlich orthodoxe Bauern und in Cioplea katholische Bulgaren. Diese waren vor den Osmanen über der zugefrorenen Donau hierher geflüchtet. Sie waren berühmt für ihre Gemüsegärten und ihre Büffel und zogen jeden Morgen in die Stadt, um Büffelkäse und Gemüse zu verkaufen.
Davon, dass es sie einst dort gab, zeugt heute nur noch ihr Friedhof. Die weißen Kreuze sind eingerahmt von Platten. Ein Hinterhoffriedhof. Ein Dorffriedhof ohne Dorf. Dass es einst ein solcher war, verrät seine Lage: es ist die Kuppe eines ehemaligen Hügels. Man kann sie heute noch erahnen. Lebende und Tote leben dort zusammen, aber nur die ersten müssen sich fürchten. Aus ihren Küchenfenstern haben sie ihre Zukunft stets vor Augen.
Immerhin wurden die Toten ausgespart. An einem anderen Ort aber mussten auch sie ausziehen. 1986 wurde der alte, dörfliche Teil des Stadtviertels Crangasi auf Befehl Ceausescus zerstört: 400 Häuser, zwei Schulen, eine Kirche und der Friedhof. Die Familien der Verstorbenen wurden herbeigeholt, die Gräber wurden alle gleichzeitig geöffnet, 11.000 Tote wurden exhumiert, eine kolossale Grabschändung begann.
Da der Friedhof noch vor kurzem in Betrieb gewesen war, war der Geruch der Verwesung unerträglich. Jede Familie erhielt einen Sarg, die Toten wechselten das Domizil, Lastwagen für Lastwagen wurden sie an den Rand der Stadt gebracht und dort auf einem freien Feld ein zweites Mal begraben. Erst danach wurde das Gelände umzäunt, wurden Alleen gezogen, Bäume gepflanzt. Ein Friedhof ohne Dorf wurde geboren, für die Toten im Exil.
Die Toten, die nicht rebellieren konnten
Der alte wurde geflutet, die ganze Gegend ist jetzt ein riesiger See, seine Ufer verwahrlost, sinnlos in die Landschaft gesetzt. Auf seinem Grund liegen heute die Fundamente eines alten Dorfes. Die Toten haben nicht rebelliert, ebenso wenig die Lebenden, die den lethargischen Fatalismus und die Angst längst verinnerlicht hatten.
So weit, so schlecht. Man könnte sagen, dass jede Stadt wachsen muss und dass Entwicklung auch Opfer kennt. Es gibt viele Beispiele einer übereilten, schädlichen, unfähigen urbanen Politik, im Osten wie im Westen. Auch will ich nicht vergessen, dass Bukarest seinen Charme hat und es wunderbare versteckte Viertel gibt. Versteckt, weil sie sich hinter den großen Schirm-Mietskasernen befinden, die um sie herum gebaut wurden, um sie unsichtbar zu machen.
Hinter den kommunistischen Wohnkomplexen entfaltet sich oft ein ungeahntes ländliches Leben, man kann plötzlich atmen, es geht unaufgeregt her, an baumgesäumte Straßen stehen Villen und kleine Häuser. Katzen ziehen umher. Es gibt Blickwinkel, von wo aus man keine einzige Platte sieht und sich in einer anderen Stadt glaubt. Und doch enden viele dieser idyllischen Straßen direkt an der Hinterseite der Wohnblocks.
Bukarest ist auch ein Freiluftmuseum in Sachen Architektur der Jahrhundertwende. Man trifft auf Schritt und Tritt auf neoklassizistische, neorumänische, Art Nouveau -, Art Deco-, Belle Epoque-, vom Kubismus inspirierte Häuser in lauschigen, ruhigen Gassen oder an vielbefahrenen Verkehrsachsen. Umso mehr muss man sich fragen, was wäre, wenn der Wahn des Ehepaares Ceausescu - zwei Ungebildete im Diktatorenpelz - nicht auch das Stadtzentrum erfasst hätte. Bukarest ist tatsächlich eine verletzte, traumatisierte Stadt, weil direkt in ihrem Herzen das über Jahrhunderte existierende urbane Gewebe zerrissen und das alte Stadtbild völlig zerstört und verändert wurde.
Für das zweitgrößte Gebäude der Welt, das Haus des Volkes, das einsam auf einem Hügel steht, und für das neue Wohnviertel der kommunistischen Nomenklatura mussten zwei alte Viertel weichen, Uranus und Mihai Voda. Die Bewohner bekamen ihren Räumungsbefehl und mussten die Häuser verlassen, die seit Generationen in Familienbesitz waren. Kirchen wurden mit einem hydraulischen Verfahren versetzt oder abgerissen. Die Bulldozer zogen ein und richteten ein Gemetzel an.
Wo ich einmal gewohnt habe
Dort, wo heute nur braches Feld, Straßenstümpfe oder Ruinen sind - in einem imaginären Raum -, einem Phantomraum, erkennen manche Bukarester ihre frühere Straße, das Haus der Eltern, den Garten, in dem sie als Kinder gespielt haben. Sie strecken die Hand aus und weisen auf einen unsichtbaren Punkt hin: „Dort habe ich meine Kindheit verbracht."
So wurde dieser Stadt Gewalt angetan, so verlor sie nicht nur einen bedeutenden Teil ihrer historischen Substanz sondern auch ihres Gedächtnisses. Solche Risse und schmerzhaften Brüche prägen die Biografien vieler Bukarester. Aber die Gewalt fand auch nach der Wende kein Ende, sei es durch Gleichgültigkeit, Inkompetenz, Korruption, ungeklärte Besitzverhältnisse oder Spekulantentum.
Die Politik hat diese Stadt im Stich gelassen, wie sie oft genug das ganze Volk im Stich gelassen hat - zu sehr mit der Selbstinszenierung, mit Lügen und der Selbstbereicherung beschäftigt. Bukarest ist an vielen Orten vernachlässigt und verfallen. Ganze Gegenden wirken slumartig, Straßenzüge liegen in Trümmern wie die alte Calea Mosilor oder Teile der historischen Calea Rahovei, um nur zwei Beispiele zu nennen. Häuser, die anderswo unbedingt geschützt würden, sind endgültig verloren oder es bleibt nur noch wenig Zeit, um sie zu retten. Es wird wild, billig und hässlich gebaut, oft genug mitten drin in historisch wertvollen Zonen.
Es lässt sich nicht eindeutig sagen, ob Bukarest - die einst als entspannte, etwas provinzielle Gartenstadt galt - schön oder hässlich ist. Das Besondere an ihr sind das Mischverhältnis, die Widersprüchlichkeit, die Bruchstellen, die Ambivalenz, die Spannung zwischen ihren kommunistischen und ursprünglichen, kaputten und erhaltenen Teilen.
So wie in der Zeit des Totalitarismus ist sie heute noch dabei, sich an vielen Stellen in ein Phantom zu verwandeln. Die Phantomschmerzen nehmen zu. Leider bin ich mir nicht sicher, ob dieser Prozess gestoppt werden kann. Ob Bukarest gerettet werden kann. Deshalb bleibt nur die Frage übrig: Was wäre wenn?
Der deutschsprachige Schriftsteller Catalin Dorian Florescu wurde am 27. August 1967 in Rumänien geboren und lebt seit 1982 in der Schweiz. Für den Roman "Jakob beschließt zu lieben" wurde er 2011 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Mitte September erscheint im Verlag C.H. Beck sein neuer Erzählband mit dem Titel "Der Nabel der Welt".