Bundestagswahl: Was Muslime wählen...
13. September 2017Die CDU will die doppelte Staatsbürgerschaft nur in Ausnahmefällen, die FDP kritisiert Islamverbände, die aus dem Ausland finanziert werden und die Linke will muslimische Feiertage staatlich anerkennen lassen. All das geht aus dem "Wahlkompass" hervor, den der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZDM) zusammen mit der "Islamischen Zeitung" und der Deutschen Muslim Liga initiiert hat. Er basiert auf Positionen der Parteien zu den Themen, die deutsche Muslime vor der Bundestagswahl womöglich beschäftigen - von der Kopftuch-Debatte bis zum Krieg im Jemen.
Fragen zu Diskriminierung, NSU, Hasskriminalität
Fünfzehn Fragen - sogenannte Wahlprüfsteine - hatte der ZDM den sechs aussichtsreichsten Parteien für den Einzug in den Bundestag vorgelegt. Eine davon: "Welche Positionen und Forderungen hat Ihre Partei bezüglich der wachsenden Diskriminierung von Muslimen in Teilen der Gesellschaft?" Die Sozialdemokraten wollen etwa im öffentlichen Dienst den Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund erhöhen, die Grünen fordern "eine gute Ausstattung von Polizei und Justiz für das Vorgehen gegen Hasskriminalität".
Auch nach Konsequenzen aus den fremdenfeindlich motivierten Morden des Nationalsozialistischen Untergrunds hatte der Zentralrat der Muslime gefragt. Die Liberalen wollen darauf reagieren, indem sie "Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden und der Justiz sensibilisieren". So sieht das auch die Linke. Zusätzlich fordert sie eine unabhängige Beobachtungsstelle für Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus.
"Ich hoffe mit diesem Angebot viele zu animieren, zur Wahl zu gehen und ihnen eine Entscheidungshilfe zu bieten", sagt der Vorstandsvorsitzende des ZDM, Aiman Mazyek, im Interview mit der DW. "Bei vielen Muslimen ist die Entscheidung noch nicht gefallen."
Gegeninitiative zu Erdogan?
Der Kompass des Zentralrats dürfte auch ein Gegenangebot zu der Wahlempfehlung Recep Tayyip Erdogans sein - auch wenn Mazyek das nicht direkt ausspricht. Der türkische Staatspräsident hatte zuletzt die in Deutschland lebenden Türken aufgefordert, nicht für CDU, SPD oder die Grünen zu stimmen, da diese Parteien "Feinde der Türkei" seien. Das kam praktisch einem Aufruf zum Wahlboykott gleich.
Tatsächlich beschäftigten sich viele muslimische Wähler mit den belasteten deutsch-türkischen Beziehungen, so die Einschätzung Said Haiders (Artikelbild). Er ist Vorsitzender des "Zahnräder Netzwerks", das engagierte Muslime aus Wirtschaft, Politik, Medien und Wissenschaft unterstützen und vernetzen will. Aktuell tourt Haider außerdem mit dem "Bus der Begegnungen" durch Deutschland.
Politik im Wahlkampf
Mit dem Projekt will der Jurist gemeinsam mit anderen Ehrenamtlichen "über die Wahlen reden und zuschauen, was die jeweiligen Bürger bewegt". Dabei gehe es auch um die Frage: "Was für eine Gesellschaft wollen wir eigentlich in Zukunft sein?" Die Türkeipolitik rücke dabei in den Hintergrund. Das sei eben "Politik vor der Wahl", meint Haider gegenüber der DW. "Daran lassen sich nicht die wirklichen Inhalte von Parteien ablesen." Genau das sei aber bei dem "Wahlkompass" der Fall. "Was mich besonders positiv stimmt, ist zum einen, dass damit innerhalb der unterschiedlichen muslimischen Gemeinschaften die Bundestagswahl auf den Tisch kommt", erklärt Haider. Zum anderen sei der Kompass überparteilich und gebe keine Wahlempfehlung ab. Damit sei er äußerst demokratisch. Tatsächlich hatte der ZDM seine Fragen auch an die "Alternative für Deutschland" (AfD) geschickt. Diese reagierte allerdings "trotz mehrfacher Nachfragen" nicht, wie der Zentralrat mitteilte.
Eine andere Frage stellt sich dennoch: Spiegelt der "Wahlkompass" überhaupt die Themen wider, die Muslime in Zeiten des Wahlkampfs beschäftigen? Rund 1,5 Millionen Muslime in Deutschland sind wahlberechtigt. Gut zwei Drittel von ihnen haben türkische Wurzeln, die übrigen stammen überwiegend aus dem Nahen Osten, aus Nordafrika und den Ländern des ehemaligen Jugoslawien. Pauschale Aussagen über ihre Parteipräferenzen lassen sich kaum treffen. "Muslime haben im Großen und Ganzen keine andere politische Agenda als Nichtmuslime. Sie interessieren sich genauso für Themen wie Arbeit, Bildung, Gesundheit oder Steuern", meint der Wahlforscher Andreas Wüst.
Muslimisches Leben im Blick
Auch Said Haider sagt: "Muslime in Deutschland haben ein ganz breit gefächertes Interesse." Das macht den "Wahlkompass" für ihn aber nicht weniger nützlich. Da sich die Fragen explizit mit muslimischem Leben in Deutschland beschäftigen, fülle der Kompass eine Lücke in der politischen Debatte.
Apropos Debatte: Öffentlich diskutiert werden die Wahlprüfsteine für Muslime bislang wenig. Das Thema Islam ist derzeit zwar bei sämtlichen Wahlveranstaltungen und Polit-Talkshows auf der Agenda, häufig im Zusammenhang mit den Themen Migration, innerer Sicherheit oder Terrorismus. Doch moniert etwa Journalistin Ferda Ataman: "Eine Stimme fehlt derzeit unüberhörbar - die der Migranten und Migrantinnen". Es könne nicht sein, "dass wichtige Debatten über die Zukunft des Landes allein von weißen Deutschen geführt werden." Ataman ist Sprecherin der "Neuen Deutschen Organisation", einem bundesweiten Netzwerk, das sich für Vielfalt einsetzt - und dafür, dass "Deutschsein" als unabhängig von der Herkunft wahrgenommen wird.
Muslim - oder einfach Deutscher?
Said Haider stimmt der Kritik Atamans zu. Er räumt aber ein, dass er "als deutscher Staatsbürger nicht unbedingt die Repräsentanz als Muslim suche". Vielmehr frage er sich vor einer Wahl: "Welche Partei ist geeignet, uns durch die anstehenden Herausforderungen zu führen?" Da kommt wieder der "Wahlkompass" ins Spiel.
Außerdem kann er sich durchaus vorstellen, dass der Kompass auch für Nicht-Muslime interessant sein könnte. "Viele von uns arbeiten mit Geflüchteten zusammen, viele von uns haben im Sportverein oder auf der Arbeit mit Muslimen zu tun. Da kommt es zu Debatten." Und schließlich gehe es auch beim "Bus der Begegnungen" immer wieder um ein Thema: Gesellschaftlichen Zusammenhalt.