Wie wählen die Deutschtürken?
25. August 2017Als "unglücklich" bezeichnet Mustafa Beihan die Forderung von Recep Tayyip Erdogan an die türkischstämmigen Wähler in Deutschland. Der türkische Präsident hatte in der vergangenen Woche dazu aufgerufen, bei der Bundestagswahl Union, SPD und Grüne zu boykottieren. Diese seien Feinde der Türkei. Mustafa Beihan, der aus der Türkei stammt und in Köln wohnt, fragt sich: "Wenn wir jetzt CDU, SPD und die Grünen nicht wählen sollen, wen sollen wir dann wählen? Die FDP? Oder etwa die AfD?"
Traditionell sozialdemokratisch
Diese Frage stellen sich viele der rund 1,2 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, die am 24. September an der Bundestagswahl teilnehmen können. "Wir wissen, dass die Türken, die in Deutschland leben, eigentlich eher konservativ veranlagt sind", sagt Umut Karakas von Data4U, einem Meinungsforschungsinstitut, das sich auf Einwanderergruppen spezialisiert hat. "So gesehen müssten sie eigentlich die CDU oder die CSU wählen, denn die sind ja konservativ. Aber da die Türken traditionell eher aus der Arbeiterklasse sind, sind sie politisch eher links orientiert. Sprich: Sie wählen die Sozialdemokraten oder die Grünen."
Laut einer Umfrage, die Data4U unmittelbar nach der letzten Bundestagswahl vor vier Jahren unter türkischstämmigen Wählern durchführte, gaben 64 Prozent der Befragten an, die SPD gewählt zu haben. Zwölf Prozent wählten die Grünen. Eine Analyse des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) zu den Parteipräferenzen von Menschen mit türkischem Migrationshintergrund bestätigt dieses Ergebnis. "Menschen mit einem türkischen Migrationshintergrund zeigen in Deutschland nach wie vor eine deutliche Neigung zum linken Parteienspektrum", heißt es in der Studie vom November 2016. Demnach fühlten sich 69,8 Prozent der Befragten politisch der SPD nahe, 13,4 Prozent den Grünen, lediglich 6,1 Prozent der Union.
Zunehmende Spannungen
Dass die Unionsparteien unter türkischstämmigen Wählern eher kritisch gesehen werden, liegt nicht nur am C im Namen, das für christlich steht, sondern auch an den Inhalten. CDU und CSU sprechen sich schon seit Langem gegen einen EU-Beitritt der Türkei aus. Auch die ablehnende Haltung zur doppelten Staatsbürgerschaft und die Debatte um die deutsche Leitkultur in der Union schreckt viele ab. Hinzu kommt, dass Politiker mit türkischem Migrationshintergrund bei den Parteien des linken Spektrums sichtbarer sind: Von den elf türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten gehören fünf der SPD-Fraktion an, darunter die stellvertretende Vorsitzende Aydan Özoguz. Die Grünen sind mit drei Abgeordneten im Bundestag vertreten, darunter Parteichef Cem Özdemir, und die Linkspartei mit zwei Abgeordneten. Mit Cemile Giousouf sitzt nur eine türkischstämmige Abgeordnete in der Unionsfraktion, obwohl diese mit Abstand die größte ist.
In den vergangenen Jahren und besonders nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei hat sich das Verhältnis zwischen Berlin und Ankara stetig verschlechtert. Die Armenienresolution wurde sowohl von der türkischen Regierung als auch von vielen Deutschtürken als Provokation aufgefasst. Der Abbau des Rechtsstaats in der Türkei nach dem gescheiterten Putsch im vergangenen Jahr und dem Verfassungsreferendum im April stießen in Deutschland auf heftige Kritik. Erdogans Nazivergleiche, der Streit um Wahlkampfauftritte von AKP-Politikern in Deutschland sowie die Festnahmen deutscher Journalisten und Menschenrechtler in der Türkei taten ihr Übriges. Der Aufruf des türkischen Präsidenten zum Boykott von CDU, SPD und Grünen ist da nur ein weiterer Tiefpunkt in den Beziehungen zwischen beiden Ländern.
Verschärft wird die Situation dadurch, dass ein Teil der türkischen Gemeinschaft in Deutschland in einer Parallelgesellschaft lebt: So sprechen etwa 63 Prozent der Türken und Türkeistämmigen in Deutschland laut einer Untersuchung von Data4U aus dem Oktober 2015 im Alltag überwiegend oder ausschließlich Türkisch. "Viele Türken in Deutschland konsumieren zu 100 Prozent ihre eigenen, türkischen Medien", sagt Umut Karakas. "Was in den deutschen Medien berichtet und gezeigt wird, das kriegen sie weniger mit."
Sinkende Wahlbeteiligung
Wie sehr sich Erdogans Aufruf auf die Bundestagswahl auswirken wird, ist noch nicht abzusehen. In Berlin sieht man die Einmischung allerdings mit Sorge. Bundeskanzlerin Angela Merkel rief alle Deutschtürken auf, zur Wahl zu gehen. Und SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte: "Ich setze darauf, dass die Menschen zur Wahl gehen und ihre Rechte wahrnehmen."
All diesen Aufforderungen zum Trotz: Umut Karakas geht davon aus, dass bei der kommenden Bundestagswahl die Wahlbeteiligung türkischstämmiger Wähler abnehmen wird. 2013 lag sie nur knapp unter der Gesamtbeteiligung. Die SPD wäre die Hauptleidtragende dieser Entwicklung. Langfristig profitieren könnten dagegen Kleinstparteien, die sich für die Interessen von Migranten, speziell Türkischstämmigen, einsetzen wollen. "Die sind im Moment noch nicht so bekannt unter den Deutschtürken", sagt Karakas. "Das heißt aber nicht, dass die Bekanntheit in den nächsten Jahren nicht steigen wird. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie irgendwann mehr Wähler mobilisieren werden."
Szenario wie in den Niederlanden?
In den Niederlanden ist ein solches Szenario bereits Wirklichkeit geworden. 2015 gründeten dort zwei ehemalige türkischstämmige Abgeordnete der dortigen Sozialdemokraten die Migrantenpartei DENK. Bei den Parlamentswahlen im Frühjahr holte DENK aus dem Stand drei Parlamentssitze. In großen Städten wie Rotterdam oder Den Haag holte die Partei sogar mehr Stimmen als die Sozialdemokraten.
DENK ist umstritten: Den beiden Parteichefs werden enge Verbindungen zur türkischen Regierungspartei AKP nachgesagt. Kritik an Erdogan und an der Politik der türkischen Regierung ist von ihnen nicht zu hören. Als im Mai eine türkisch-niederländische Bloggerin wegen eines Erdogan-kritischen Tweets in der Türkei verhaftet wurde, standen alle Parteien im niederländischen Parlament geschlossen hinter einer Resolution, die ihre sofortige Freilassung forderte. Nur eine Partei wollte sich der Forderung nicht anschließen: DENK.