Bundeswehr-Veteranen: Wut über Fall von Kundus
12. August 2021Als die Taliban vor wenigen Tagen die strategisch wichtige Provinzhauptstadt Kundus im Nordosten Afghanistans einnahmen, beherrschte diese Nachricht die Schlagzeilen. Das Vorrücken der Islamisten war erwartet worden. Aber der schnelle und scheinbar mühelose Fall von Kundus und der gleichnamigen Provinz, war ein Schock für die westliche Gemeinschaft. Veteranen des zwei Jahrzehnte andauernden deutschen Afghanistan-Einsatzes erlebten den Fall von Kundus vor allem als verheerenden psychologischen Schlag.
"Es hat bei ihnen ein emotionales Erdbeben ausgelöst", beschreibt Wolf Gregis (der Name ist das von ihm bevorzugte Pseudonym) die Gefühlslage. Gregis war früher selbst Soldat; heute ist er Autor und Professor für Pädagogik an der Universität Rostock. Im DW-Gespräch betont er die Bedeutung von Kundus als Symbol: "Kein anderer Ort in Afghanistan wird so sehr mit gefallenen deutschen Soldaten in Verbindung gebracht wie Kundus."
Es war die Provinz Kundus, in der die Bundeswehr die meisten Verluste erlitten hat. Dort spielten sich die Ereignisse ab, die das Bild der deutschen Öffentlichkeit vom Afghanistan-Krieg prägten. "Hier lernten deutsche Soldaten erstmals im großen Stil, was kämpfen - und sterben - in einem asymmetrischen Krieg bedeutet. Und wie hässlich das ist", sagt Gregis .
"Blutigstes Jahr" der Bundeswehr-Geschichte
Zu Beginn des Bundeswehr-Einsatzes galt die Region als eine der sichersten Provinzen des Landes. Dort übernahm Deutschland 2003 das Kommando über eines der Regionalen Wiederaufbauteams, PRT, des NATO-Bündnisses. Schon im Juni 2003 sterben vier deutsche Soldaten bei einem Sprengstoffanschlag auf einen Bus. Ab dem Jahr 2006 wurden die Kämpfe auch im Nordosten heftiger. Kundus, so Gregis, habe den Zweck des deutschen Afghanistan-Einsatzes auf die Probe gestellt.
Die Provinz wurde Schauplatz gleich mehrerer schrecklicher Ereignisse: Im September 2009 befahl ein deutscher Offizier einen US-Luftangriff auf einen Öllastwagen, bei dem ungewollt mehr als hundert Zivilisten ums Leben kamen. Inzwischen sind Zweifel an dieser Darstellung aufgekommen, da Bundesrichter, die mit dem Beweismaterial vertraut sind, in der vergangenen Woche erklärten, dass die Zahl der Opfer wahrscheinlich niedriger war - eher 40 - und weniger Zivilisten darunter waren.
Ein Jahr später gerieten deutsche Soldaten zunehmend in Feuergefechte mit den Taliban. Insbesondere, als in der neunstündigen sogenannten "Karfreitagsschlacht" im April 2010 eine Patrouille überfallen und umzingelt wurde. Drei Soldaten starben, acht weitere wurden verletzt. Am Ende rettete ein US-Hubschrauber die Einheit.
Damit begann das von der Bundeswehr so bezeichnete "blutigste Jahr ihrer Geschichte". Der Einsatz deutscher Soldaten in Kundus dauerte bis 2013. Dann bezog die Bundeswehr ein Feldlager im weiter westlich gelegenen Masar-i-Scharif.
Während des zwei Jahrzehnte dauernden Einsatzes der Bundeswehr am Hindukusch verloren insgesamt 59 Soldaten ihr Leben.
Dass sie am vergangenen Wochenende am Fernseher sehen mussten, wie Taliban-Kämpfer die Provinz-Hauptstadt überrannten, hat viele Bundeswehr-Veteranen schockiert - und sie wütend gemacht. "Es ist schwer zu beschreiben", sagt Andreas Eggert, der 2013 den letzten seiner sieben Afghanistan-Einsätze beendete und heute Landesvorsitzender des Bundesverbandes der Deutschen Veteranen (BDV) ist. "Vieles geht mir durch den Kopf - sowohl Trauer wie auch Wut."
Eggert kannte einige der getöteten Kameraden persönlich. Seine Wut richtet sich auf mehrere Ziele. "Es ist Wut auf die Taliban, dass sie die Menschen dort wieder unter ihr Joch zwingen wollen", sagt er der DW. "Aber ich ärgere mich auch über die Entscheidung der Bundesregierung und des Verteidigungsministeriums - das war so vorhersehbar, diese Katastrophe."
Ohnmacht, Trauer und Wut
"Es fühlt sich extrem beschissen an", nimmt Johannes Clair kein Blatt vor dem Mund. Der ehemalige Bundeswehr-Unteroffizier hat ein Buch über seinen siebenmonatigen Einsatz in Kunduz von 2010 bis 2011 veröffentlicht. "Wir haben dort Blut, Schweiß und Tränen hinterlassen; unsere Kameraden wurden dort getötet. Es war vorhersehbar. Spätestens nach 2014, als die Kampftruppen abgezogen worden sind, hat sich herausgestellt, dass die afghanischen Sicherheitskräfte nicht in der Lage sind, die Lage selbstständig in den Griff zu bekommen."
Clair fürchtet um die Sicherheit der afghanischen Helfer: "Während wir wieder zu Hause sind, sind die Afghanen dort in Lebensgefahr. Insbesondere diejenigen, die mit dem Westen kooperiert haben - das macht es noch schlimmer", sagt Clair und fügt hinzu: "Jetzt sitze ich hier und kann nichts dagegen tun."
Clair hält den endgültigen Abzug der westlichen Truppen in diesem Jahr für unvermeidlich. Für ihn ist die Mission zu etwas geworden ist, was er eine "Alibi-Mission" nennt - nichts Halbes und nichts Ganzes: "Deswegen bin ich auch so wütend. Denn die Kernprobleme der Situation in Afghanistan waren lange bekannt, auch schon 2010, als ich dort im Einsatz war. Aber sie sind nie konsequent angegangen worden", erklärt er der DW.
Jahrelang, so beschreibt es Clair, hätten NATO und Bundesregierung ständig die Strategie gewechselt, hoffend, dass endlich etwas funktionieren würde. Besonders weil der Einsatz in der Heimat unbeliebt gewesen sei, habe sich die Regierung nie richtig zu ihrer Mission bekannt. Das alles mündete 2014 in den Abzug der Kampftruppen. "Es war vollkommen klar, dass die von uns erreichten positiven Effekte nicht nachhaltig sein würden. Letztendlich haben wir die große Mühe und die viele Arbeit, die dort geleistet wurde, verraten. Aber vor allem haben wir die Afghaninnen und Afghanen verraten."
Alternativloser Abzug?
Auch das Urteil des Veteranenvorsitzenden Eggert zu den politischen Entscheidungen Deutschlands fällt vernichtend aus. "Unsere Verteidigungsministerin sagte, die Entscheidung zum Rückzug wäre alternativlos. Ich stimme zu: Es war alternativlos, aber diese Entscheidung hätte anders vorbereitet werden können", sagt Eggert. "Ich bin sehr traurig, weil ich während meiner Mission dort viele tolle Afghanen kennengelernt habe und ich weiß, dass sie jetzt um ihr Leben fürchten müssen - oder ihr Leben vielleicht sogar schon verloren haben."
Die Frage, ob und wie afghanische Unterstützer der Bundeswehr in Deutschland Asyl beantragen können, hat sich in den letzten Wochen zu einem politischen Morast entwickelt. Schuld daran sind eine komplexe Bürokratie und wie manche sagen: politische Gleichgültigkeit. "Ich denke, es gab eine internationale Verantwortung, das zu verhindern, weil es so vorhersehbar war", kritisiert Eggert.
Sowohl Clair als auch Eggert vertreten die Meinung, dass deutsche Truppen bei Afghanen beliebter seien als ihre US-Verbündeten: Sie seien konstruktiver und weniger "militaristisch" aufgetreten, wie Eggert es ausdrückt. "Sie wussten, dass wir dem Land eine gewisse Stabilität und Arbeitsplätze gebracht haben und sie waren freundlich". Allerdings schränkt Eggert auch ein: "Natürlich konnte man nie ausschließen, dass es auch Leute gab, die mit den Aufständischen zusammenarbeiteten."
Trotz des derzeitigen Siegeszuges der Taliban besteht Eggert darauf, dass seine gefallenen Bundeswehrkameraden nicht umsonst gestorben sind. "Ich glaube nicht, dass die Mission umsonst war; ich denke, sie hat die Dinge verändert", gibt er sich überzeugt. "Die gefallenen Soldaten haben die Freiheit der Deutschen mit ihrem Leben verteidigt. Und in Afghanistan haben wir etwas in den Köpfen der Menschen verändert, wir haben ganze Generationen begleitet."
Der Veteran ist überzeugt, dass die internationale Gemeinschaft gut beraten wäre, sich weiterhin für die Aufrechterhaltung der Sicherheit in Afghanistan einzusetzen. "In ein paar Jahren werden wir wieder da sein, um von vorne anzufangen, um ein zerstörtes Land aufzubauen", befürchtet Eggert.
Der Bundeswehr-Stützpunkt in Kundus wurde 2013 an die afghanische Regierung übergeben. Die deutschen Truppen zogen sich in ein neues Hauptquartier im weiter westlich gelegenen Masar-i-Sharif zurück.
Ende Juni dieses Jahres hat Deutschland seine letzten Truppen aus Afghanistan abgezogen.