Bunte Mischung im Europaparlament
27. Mai 2019Mal um Mal bei Europawahlen war die Beteiligung immer weiter abgerutscht - diesmal ging es wieder deutlich nach oben. Darüber freuen sich alle Parteien. Das große Desinteresse scheint erst einmal vorbei, die Menschen interessieren sich wieder für Europa, wohl auch, weil manche Politiker von einer Schicksalswahl gesprochen haben.
Gewählt wurde aber von Land zu Land höchst unterschiedlich. Insgesamt lässt sich sagen: Es wird unübersichtlicher im Europaparlament. Manfred Weber, Chef der nach wie vor größten, aber gebeutelten, Fraktion der konservativen Europäischen Volkspartei EVP, sagt: "Wir stehen vor einer schrumpfenden Mitte im Europaparlament, einer Mitte von Parteien, die an die Zukunft Europas glauben, die Europa stärken wollen und die ehrgeizige Ziele für Europa haben."
Jubelnde Grüne
Wie die Konservativen mussten in vielen Ländern auch die Sozialdemokraten Federn lassen. Ihr Spitzenkandidat Frans Timmermans findet: "Deshalb müssen wir demütig sein und klar sagen, welches Programm wir verfolgen." Gefehlt hat den Leuten, so Timmermans, "dass wir dringend etwas gegen die Klimakrise tun". Seine Parteienfamilie wie auch die Konservativen haben dieses Feld offenbar zu wenig beackert. In Deutschland wie in mehreren anderen Ländern haben die alten Volksparteien deutlich verloren - auf Kosten der Grünen.
Sie sind einer der großen Gewinner dieser Wahl. Ihre Ko-Spitzenkandidatin Ska Keller sieht ihre Partei nun in der Pflicht: "Wir haben uns im Wahlkampf für Klimaschutz eingesetzt, für den Schutz der Artenvielfalt, aber auch für ein soziales Europa, und dass die Bürgerrechte überall in der EU eingehalten werden (…). Das wollen wir nun im Europaparlament umsetzen."
Siegreiche Le Pen - schon wieder
Der andere große Sieger sind die Rechtspopulisten, allerdings längst nicht überall. In Italien ist die Lega, der Juniorpartner in der Koalition in Rom, spektakulär an der Fünf-Sterne-Bewegung vorbeigezogen und hat die Kräfteverhältnisse damit umgekehrt. Lega-Chef und Innenminister Matteo Salvini sieht europaweit bereits ganz neue Möglichkeiten heraufziehen: "Nicht nur ist die Lega die größte Partei in Italien, sondern Marine Le Pens Partei ist auch die größte in Frankreich und die von Nigel Farage die größte im Vereinigten Königreich - Italien, Frankreich, England. Das zeigt, wie sich Europa verändert."
Tatsächlich schlug in Frankreich der Rassemblement National knapp Präsident Emmanuel Macrons La République en Marche - eine große Demütigung für ihn. Allerdings blieben die Rechtspopulisten unter ihrem Ergebnis der letzten Europawahl, als sie auch schon stärkste Partei wurden. Le Pen rief Macron jetzt sogar zu Neuwahlen in Frankreich auf, "er, der seine Glaubwürdigkeit bei dieser Wahl in die Waagschale gelegt hat, indem er sie zu einer Volksabstimmung über seine Politik und seine Person gemacht hat".
Farage: "So einfach ist das."
Ein Sonderfall ist das Vereinigte Königreich, das eigentlich aus der EU aussteigen will. Doch einen Brexit bekam die konservative Regierung unter Theresa May nicht rechtzeitig hin, so dass das Land an der Wahl teilnehmen musste. Stark hinzugewonnen haben in Großbritannien einmal Parteien, die das Land in der EU halten wollen, noch mehr aber die Brexit-Partei von Nigel Farage, deren Name alleiniges Programm ist, während sowohl Konservative als auch Labour ins Bodenlose stürzten. Farage fordert sie auf, sich zu entscheiden: "Am Ende geht es darum, was die Wähler wollen, und ich glaube, entweder werden uns die Konservativen oder Labour zum Brexit führen, oder sie müssen ersetzt werden. So einfach ist das."
Offen bleibt aber, ob sich die verschiedenen rechten Parteien im Europaparlament zu einer großen Fraktion zusammenschließen, bisher scheint das wegen innerer Widersprüche unwahrscheinlich.
Neuwahlen in Griechenland
Es gibt einzelne Ausreißer bei der Wahl - und mindestens in einem Fall hat das Ergebnis unmittelbare Folgen für die nationale Politik. So brachen zum Beispiel die spanischen Sozialdemokraten den allgemein schlechten Trend für die gemäßigte Linke und schnitten gut ab. Ministerpräsident Pedro Sánchez begreift das als Aufforderung für eine klassisch linke Politik: "Wir werden ein soziales Europa bauen. Wir werden Europa stärken, damit es schützt, vor allem indem wir die Umverteilungs-, Arbeitnehmer- und Lohnpolitik stärken."
Der deutlich links stehende griechische Regierungschef Alexis Tsipras hat dagegen eine Schlappe erlitten, während die Konservativen nach Jahren der Agonie wieder aufstiegen. Das Vertrauen in seine Regierung sieht Tsipras offenbar so stark erschüttert, dass er ankündigte, er werde nach der zweiten Runde der Kommunalwahl Anfang Juni "den Staatspräsidenten um die Ausrufung von Neuwahlen ersuchen".
Wer wird was?
Die geschrumpfte Mitte im Europaparlament bedeutet auch, dass es schwieriger werden wird, Mehrheiten zu finden, zum Beispiel für den neuen Kommissionspräsidenten. Für Manfred Weber von der EVP reicht die Unterstützung der ebenfalls geschrumpften Sozialdemokraten nicht mehr. Er will jetzt "mit Demut, aber auch mit Selbstbewusstsein" Grünen und Liberalen die Hand zum Gespräch ausstrecken.
Dagegen findet es Margrethe Vestager von den Liberalen keineswegs ausgemacht, dass Weber das Rennen macht: "Ich glaube, die neue Zusammensetzung des Parlaments ist Zeichen für einen Wandel. Wir haben nicht mehr nur eine Zweiparteienmehrheit. Dies ist ein neues Parlament." Sie will selbst Kommissionspräsidentin werden und wäre dann die erste Frau in dem Amt.
Ohnehin lehnen einige der Staats- und Regierungschefs das Prinzip, dass der Spitzenkandidat der größten Partei Kommissionspräsident wird, ab, darunter Macron. Am Dienstag wollen sie sich treffen, um zum ersten Mal darüber zu sprechen, wen sie für diesen und andere EU-Spitzenposten vorschlagen könnten. Neben der Kommissionspräsidentschaft sind die Ratspräsidentschaft, der Parlamentsvorsitz, der Vorsitz der Europäischen Zentralbank und das Amt des Außenbeauftragten neu zu besetzen.