"Arbeitslosen-Sanktionen sind inhuman"
5. November 2019DW: Herr Butterwegge, das Bundesverfassungsgericht hat die Kürzungen von Hartz-IV-Bezügen für teilweise verfassungswidrig erklärt. Zwar dürfen die Behörden Arbeitslosen, die zumutbare Jobs ablehnen, bis zu 30 Prozent ihrer staatlichen Hilfe streichen. Abzüge von 60 oder sogar 100 Prozent für diejenigen, die gegen die Auflagen verstoßen, sind demnach aber verfassungswidrig. Gibt das Urteil mehr Klarheit im Umgang mit Arbeitslosen und der Bewertung ihres Existenzminimums?
Christoph Butterwegge: Es ist sicherlich ein Schritt voran, was die Sanktionierung mit 60 Prozent und vor allen Dingen die totale Sanktionierung - also Kürzung der Leistungen um 100 Prozent angeht. Aber auf der anderen Seite ist das Urteil natürlich auch halbherzig. Die grundsätzliche Frage ist, ob man das Existenzminimum kürzen darf. Und da hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt: Grundsätzlich darf der Staat das. Er darf gewissermaßen die Sanktionen benutzen, um das Existenzminimum der Betroffenen um bis zu 30 Prozent einzuschränken. Ich finde, Sanktionen sind insgesamt inhuman. Sie sind auch mit 30 Prozent kontraproduktiv, weil ein System besser wäre, das fördert, das unterstützt, das Hilfestellungen gibt, anstatt zu strafen.
Für Sie ist also das Hartz-IV-Prinzip vom 'Fördern und Fordern' grundsätzlich gescheitert, unabhängig davon, wie das Bundesverfassungsgericht nun geurteilt hat?
Es wurde im Wesentlichen nur gefordert. Die britischen Jobcenter beispielsweise haben als Slogan nicht Fördern und Fordern, sondern sehr viel deutlicher: Help and Hassle. Das bedeutet, helfen und ärgern. Und ich glaube, das Schikanieren ist eher typisch für dieses Arbeitsmarkt-System Hartz IV. Das müsste dringend überwunden werden. Ich hoffe sehr, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts der Ausgangspunkt ist, prinzipiell darüber nachzudenken, ob wir nicht statt einer Rohrstock-Pädagogik des früheren Kaiserreichs im Arbeitsmarkt und Sozialrecht ein anderes System brauchen, das eher positiv versucht, Anreize zu setzen, um Betroffene zur Mitwirkung zu motivieren.
Was müsste die Politik konkret machen, um das Konzept des Helfens in den Vordergrund zu rücken, um die Erwerbslosen wieder zur Arbeit zur bringen?
Notwendig wäre beispielsweise ein sozialer Arbeitsmarkt, aber auch eine Förderung im Sinne eines Weiterbildungsgeldes. Wenn jemand eine berufliche Weiterbildung macht, dann könnte er auf diese Art und Weise finanzielle Anreize bekommen. Ich halte das für den besseren Weg, als mit Sanktionen Druck auszuüben. Menschen werden ja nicht durch Druck, also durch Drohung mit Sanktionen motiviert, sondern dadurch, dass sie Anreize bekommen.
Welche Anreize könnten das sein - vor dem Hintergrund eines sich stark verändernden Arbeitsmarktes aufgrund der digitalen Umbrüche?
Wenn wir an die Digitalisierung denken, brauchen wir Weiterbildung und Umschulungen. Menschen brauchen vielleicht statt ihrer bisherigen Berufsausbildung ganz neue Qualifikationen. Die könnten Sie natürlich nur durch eine berufliche Weiterbildung bekommen. Aber dazu müsste Geld in die Hand genommen werden. Es müsste versucht werden, statt über Drohungen und Druck helfend einzugreifen, Unterstützung zu geben, Berufsberatung zu machen. Die Jobcenter sind aber von ihrer personellen Ausstattung gar nicht in der Lage, den Betroffenen zu helfen. Das heißt, man muss für diesen Bereich mehr Geld ausgeben.
Es scheint mir allerdings unwahrscheinlich, dass man mehr Geld für eine andere Sozial- und Arbeitsmarktpolitik in die Hand nimmt. Es ist zwar mehr Geld da für die Rüstung, für die Förderung der E-Mobilität oder die Subvention teurer Autos. Aber sobald es darum geht, Geringverdiener oder Hartz-IV-Bezieher besser zu stellen, wird sofort gesagt, dass dies den Staat finanziell überfordere und der Steuerzahler das nicht mitmache. Ich finde, ein so reiches Land wie die Bundesrepublik Deutschland hat eigentlich die Pflicht, mehr zu tun, für die hohe Zahl von Menschen, die teilweise schon seit über zehn Jahren nicht aus Hartz IV herauskommt.
Herr Butterwegge, gibt es ein Land oder eine Regierung, von der Deutschland in dieser Frage lernen könnte?
Die internationale Situation ist so, dass sich aufgrund des neoliberalen Einflusses Marktmechanismen stärker ausbreiten und der Sozialstaat eher zurückgedrängt wird. Die skandinavischen Länder setzen sicherlich mehr auf staatliche Unterstützung und Hilfestellung. Insofern wäre das möglicherweise ein Vorbild. Aber ich sehe jetzt kein Land, das sich wirklich beispielhaft verhält. Überall wird seit geraumer Zeit mehr Druck auf Menschen ausgeübt, die zum Teil auch psychische Probleme und Suchtprobleme haben. Die den Jobcentern nicht aus bösen Willen fernbleiben, sondern weil sie beispielsweise aus Angst die Briefe des Jobcenters nicht mehr öffnen.
Christoph Butterwegge (* 26. Januar 1951) war Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln und Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien. Seit Ende Oktober 2016 ist er im Ruhestand. Seit seinem Austritt aus der SPD gehört er keiner Partei an, steht aber der Linken nahe.
Das Gespräch führte Ralf Bosen.