Marco Reus, der Unvollendete
24. August 2019Auch hier, in einem grell erleuchteten Gang im Innern des Kölner Stadions, versucht Marco Reus die Dinge zu ordnen. "Moment, Moment. Einer nach dem anderen. Wer fragt jetzt?", sagt der BVB-Star zu einer wachsenden Schar Reporter, die auf ihn vor der Kabine gewartet hat. Alle wollen ihn nach dem 3:1-Auswärtssieg von Borussia Dortmund sprechen, seine Analyse hören, und das, obwohl er heute eigentlich gar nicht im Mittelpunkt des Spiels steht. Marco Reus ist auf und neben dem Platz der Dreh- und Angelpunkt dieser Mannschaft, die sich anschickt, den Seriensieger FC Bayern München vom Thron zu stoßen.
Natürlich ist es noch reichlich früh, überhaupt davon zu sprechen. Der 2. Spieltag einer Saison birgt gemeinhin ein übersichtliches Erkenntnispotenzial was den weiteren Verlauf der Spielzeit betrifft. Doch die eine Frage schwebt jetzt schon über der gesamten Bundesliga: Kann Dortmund die Bayern tatsächlich erstmals seit sieben Titeln in Folge schlagen?
Reus darf und kann alles
Viel hängt davon ab, was Marco Reus in den verbleibenden 32 Spielen tun wird. Der Dortmunder Kapitän spielt im Konzept von Lucien Favre, der Reus zu Beginn des Jahrzehnts schon bei Borussia Mönchengladbach formte, die überragende Rolle. Spielmacher, Mittelstürmer, Außenstürmer, bei Bedarf auch defensives Mittelfeld - Reus ist unter Favre überall zu finden, darf sich seine Räume und Aufgaben selbst suchen. Favre vertraut seiner Spielintelligenz. Und die war im Spiel in Köln gefordert.
Dort ist der BVB von Beginn an unter Druck, denn der FC geht mit hohem Tempo und viel Intensität in den Zweikämpfen ins Spiel. Reus‘ erste Aktion misslingt - und das ausgerechnet, weil ihm Tempo fehlt. Ein angedachter Doppelpass mit dem auf der rechten Seite stehenden Jadon Sancho schlägt nach drei Minuten fehl, weil sich Marco Reus nicht zügig genug vor seinen Gegenspieler drängen kann. Der Ball ist weg, Reus trabt langsam wieder zurück. Auch ein Marco Reus braucht etwas Anlauf, bis er im Spiel ist. Doch er krempelt die Ärmel hoch, treibt sein lethargisch wirkendes Team an. Sein Freistoß nach 22 Minuten, den Kölns Keeper Timo Horn kurz vor der Linie noch um den Pfosten lenken kann, ist die erste und einzige Dortmunder Torchance in der ersten Halbzeit. Stattdessen trifft der 1. FC Köln in Person von Dominic Drexler zur Führung (29.).
Er lässt auch andere glänzen
Reus bleibt cool. "Uns war klar, dass wir geduldig sein mussten, dass Köln das Tempo nicht über 90 Minuten gehen konnte. Wir können immer in der zweiten Halbzeit noch eine Schippe drauf legen." Und das tat sein Team, wenn auch erst sehr spät. Dem sehenswerten Ausgleichstor durch Jadon Sancho, der per Schlenzer ins lange Eck trifft (70.), folgte erst in den letzten fünf Minuten die Entscheidung des Spiels: Achraf Hakimi per Kopf (85.) und Paco Alcácer mit einem Konter (90.) sorgen für einen schmeichelhaften, aber wichtigen zweiten Sieg der Borussia.
Marco Reus überzeugt dieses Mal weniger als genialer Spieleröffner oder Vollstrecker, sondern als Arbeiter im Dienst der Mannschaft. Er erkennt die Notwendigkeit des Defensivspiels in einer Phase, in der sein Team wackelt und er schafft Räume in der Schlussphase, in der den Kölnern die Kräfte sichtbar schwinden. Dadurch glänzen andere, doch Reus ist wie so oft der Ausgangspunkt.
Noch eine Schippe drauflegen?
"Wir müssen hart arbeiten für den Erfolg", macht er nach dem Spiel klar und streicht sich durch das frisch geduschte blonde Haar. Er will wohl auch die hohen Erwartungen an den BVB etwas abfangen. "Es geht nicht von allein. Wir sind noch nicht da, wo wir hinwollen." Nach 261 Bundesliga-Spielen, 117 Toren und 75 Vorlagen weiß Reus, wovon er spricht. Und er weiß auch, was ihm fehlt: ein großer Titel. Vier Vizemeisterschaften, ein zweiter Platz in der Champions League - Marco Reus‘ Karriere steht an einem entscheidenden Punkt. Mit 30 Jahren zählt er unbestritten zu den besten deutschen Fußballern seiner Generation. Die Datenbank von transfermarkt.de taxiert ihn auf einen Marktwert von 50 Millionen Euro - gemessen am heutigen Niveau der Ablösesummen, dürfte sein wahrer Wert deutlich höher liegen. Doch noch ist er der Unvollendete.
Lange galt er als verletzungsanfällig, fiel meist im ungünstigsten Moment aus - zum Beispiel kurz vor der WM 2014, die Deutschland ohne ihn gewann. Inzwischen ist er körperlich robuster, kann Tacklings von gegnerischen Verteidigern besser abwehren. Auf den nun muskulöseren Schultern lastet aber auch mehr Verantwortung. Geht der ausgerufene Angriff auf den FC Bayern München schief, wird man auch Reus Fragen stellen. Gut möglich, dass die Nummer 11 des BVB auch mit Blick auf seine Karriere das Motto des Spiels in Köln beherzigen muss: Geduldig sein und am Ende eine Schippe drauflegen.