Bürgermeister, begehrt und beschimpft
6. Dezember 2019"Es gibt mit Sicherheit Leute im Ort, die hätten weiß Gott mehr Zeit als ich. Aber die wollten nicht." Seit Juli 2019 ist Jürgen Bohl ehrenamtlicher Bürgermeister von Gerhardsbrunn. Über drei Jahre musste der kleine Ort mit 170 Einwohnern in Rheinland-Pfalz ohne Bürgermeister auskommen. Dann erbarmte sich der Landwirt und übernahm den Job.
In vielen Orten in Deutschland stehen die Rathäuser leer. Ehrenamtliche Bürgermeister und Ortsvorsteher wollen nicht mehr kandidieren, in den Kommunen gestaltet sich die Suche nach Kandidaten immer schwerer. In Bayern, wo im März 2020 Kommunalwahlen stattfinden, tritt rund die Hälfte aller Bürgermeister, das sind über 1000 Kandidaten, nicht mehr an.
Wer kümmert sich um die Ortsdurchfahrt?
Jürgen Bohl weiß warum: "Man hat am Anfang gedacht, in so einem kleinen Ort, das ist nicht viel, aber es ist mehr Arbeit als gedacht", sagt der Landwirt im Gespräch mit der DW. Mehr als zehn Stunden in der Woche kümmert er sich um "seinen" Ort. Gemeinsam mit den Gemeinderatsmitgliedern baute er die Friedhofsmauer wieder auf und ließ die zugewachsenen Wirtschaftswege beschneiden. Die größte Aufgabe, die ihm nun bevorsteht, ist die Sanierung der Ortsdurchfahrt.
Kommunalpolitik in der Krise: Es mangelt nicht nur an Kandidaten. Auch die Zeitspanne, für die sich Freiwillige bereit erklären, ein solches Ehrenamt auszuüben, hat sich verringert. Genaue Zahlen gibt es nach Angaben des Deutschen Städte- und Gemeindebundes allerdings nicht, denn in jedem Bundesland gebe es unterschiedliche Modelle und Bezeichnungen für ehrenamtliche Bürgermeister.
Bedrohungen und Beleidigungen
Fest steht: Bürgermeister vom alten Schlag, wie zum Beispiel Josef Rüddel, der 56 Jahre lang der Ortsgemeinde Windhagen mit rund 4000 Einwohnern im Westerwald vorstand, werden immer seltener. Alexander Handschuh vom Deutschen Städte- und Gemeindebund macht neben dem wachsenden Arbeitsaufwand auch die zunehmenden Drohungen und Anfeindungen für die Situation verantwortlich.
"Es gibt immer mehr Beschimpfungen, Beleidigungen und Bedrohungen gegen Menschen, die sich vor Ort engagieren", erklärt er im Gespräch mit der DW. "Ich würde mir erhoffen, dass auch einer mal sagt, wir finden es toll, dass du dich für das Gemeinwesen engagierst."
Bei einem vertraulichen Treffen von Bürgermeistern im Juli dieses Jahres mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Berlin klagten die Kommunalpolitiker über Bedrohungen, Beleidigungen, Hassmails und den mangelnden Schutz durch die Polizei.
Studentin und Ortsvorsteherin
Tatjana Cyrulnikov, Ortsvorsteherin der Waldsiedlung in Altenstadt in Hessen, hat dies am eigenen Leib erfahren. Die Studentin wurde Mitte Oktober gewählt, nachdem der kurz zuvor gewählte Ortsvorsteher Stefan Jagsch, Mitglied der rechtsextremen NPD, wieder abgewählt worden war. Der Fall hatte bundesweites Aufsehen erregt.
"Nach meiner Wahl zur Ortsvorsteherin habe ich eine wunderschöne E-Mail bekommen", sagt Cyrulnikov mit ironischem Unterton in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. "Da wurde auch gesagt, die Russen und die Ausländer beherrschen bald unser Deutschland. Es sei eine Schande, was aus ihrem Heimatland geworden ist. Auf Facebook war auch eine Morddrohung dabei."
Für den Hauptamtsleiter der Gemeindeverwaltung Altenstadt sind Anfeindungen dieser Art ein Grund für das mangelnde Interesse, zu kandidieren. "Die Menschen werden angegriffen, auch in den Gremien", erklärt Klaus Bube im Gespräch mit der DW. "Daran verzweifeln viele. Früher waren Ehrenamtliche oft jahrzehntelang im Einsatz, mittlerweile werfen viele schon nach zwei bis drei Jahren das Handtuch."
Im bayerischen Schwanfeld sah sich die Gemeinde gezwungen, die ehrenamtliche Tätigkeit des Bürgermeisters in eine bezahlte Vollzeit-Stelle umzuwandeln. Denn in dem ältesten Dorf Deutschlands fand sich kein einziger Einwohner, der die Nachfolge des langjährgen Bürgermeisters Richard Köth antreten und bei den Kommunalwahlen im März 2020 kandidieren wollte. Erst nachdem die örtliche Tageszeitung "Mainpost" über die verzweifelte Suche nach einem Bürgermeister berichtet hatte, gingen 30 Bewerbungen ein.
Erst Feuerwehrman, dann Bürgermeister
Das Interesse sei früher größer gewesen. "Wir hatten Zeiten, da gab es in 300-Seelen-Gemeinden drei Kandidaten für das Amt", bestätigt der ehrenamtliche Bürgermeister Marcus Franzen aus Gindorf in Rheinland-Pfalz.
Das Dorf mit etwas mehr als 300 Einwohnern hatte dreieinhalb Jahre keinen Ortsvorsteher und wurde deshalb von der Verbandsgemeinde Bitburger Land mitverwaltet. Bei den Kommunalwahlen im Mai dieses Jahres machte Franzen dem Elend ein Ende: Er gab sein Ehrenamt als stellvertretender Wehrführer bei der Freiwilligen Feuerwehr im Ort auf und ließ sich zum Bürgermeister wählen.
Nun kümmert er sich um den Kinderspielplatz und die Straßenbeleuchtung im Ort. "Wer will, dass sich was tut, muss aufstehen", sagt er. Die Dorfbewohner sind ihm dankbar. "Ich bekomme viel Rückhalt", sagt Franzen, "vor allem, wenn ich ältere Leute besuche".
Auch Jürgen Bohl aus Gerhardsbrunn hat seine Entscheidung noch nicht bereut. "Ich freue mich, dass im Ort wieder etwas passiert", sagt er. "Ich komme rum, bekomme Zuspruch, aber ich erwarte keine Danksagungen. Im Grunde macht es schon Spaß".
Der Verband Baden-Württembergischer Bürgermeister will sich mit bloßen Worten nicht zufrieden geben. Am vergangenen Montag forderte Sprecher Michael Makurath, Oberbürgermeister von Ditzingen, mehr Geld für Ehrenamtliche. Außerdem müssten die politische Parteien sich stärker darum kümmern, geeigneten Nachwuchs zu finden. Makurath: "Wenn es so weitergeht, will keiner mehr den Kopf rausstrecken, weil ihm der gleich wieder abgeschlagen wird."