Ewans Ritt auf der Rasierklinge
17. Juli 2019Sein Hinterrad springt wild hin und her, scheint kurz davor, die Traktion zu verlieren. Caleb Ewan ist so weit über seinen Lenker gebeugt, dass der Schwerpunkt bedrohlich weit nach vorne kommt. Der Australier bewegt sich am Limit wenn er sprintet, sucht die aerodynamischste Position auf seinem Rad, ein entscheidender Faktor bei einer Geschwindigkeit von fast 70 km/h, die die Sprinter bei einer flachen Ankunft wie der 11. Tour-Etappe in Toulouse erreichen. Wild wirft Ewan sein Rad auf dem Boulevard Lascrosses hin und her, versucht den enteilten Niederländer Dylan Groenewegen noch zu stellen. Mit einem Tigersprung wuchten beide ihr Rad über die Ziellinie und die Winzigkeit von vielleicht fünf Zentimetern entscheidet dieses Rennen: Caleb Ewan hat das Vorderrad knapp vorn und reißt den Arm jubelnd in den Himmel.
"Yeaaaah!" schreit er seine Freude Sekunden später im Zielbereich heraus, als er zum Stehen gekommen ist. Es ist sein erster Etappensieg und in seinen Augen schimmern ein paar Freudentränen. "Von keinem anderen Rennen habe ich von klein auf geträumt, dass ich mal eine Etappe gewinnen würde. Ich kann es nicht glauben. Die Tour de France ist von Australien so weit weg, etwas, das wir nur am TV verfolgt haben. Jetzt bin ich hier und hole noch eine Etappe", sagt er kurz darauf sichtlich gerührt im Interview und ergänzt: "Ein Traum wird wahr."
Ein Teamwechsel bringt den ersehnten Tour-Start
Schon vor der Tour galt er für viele Experten als Sieganwärter auf den Flachetappen, sogar als Mitfavorit auf das erste Gelbe Trikot beim Auftakt in Brüssel. Er sei in guter Verfassung, die Beine fühlen sich gut an, er habe großes Vertrauen in sich, gab er geduldig den Journalisten aus seinem Heimatland zu Protokoll. Doch die Tour begann mit Enttäuschungen für Ewan: Den Auftaktsieg holte der Außenseiter Mike Teunissen, Ewan ging auf den letzten Metern die Puste aus, er wurde Dritter. Dieses Resultat erzielte Ewan auch auf der 4. und 10. Etappe, auf dem 7. Teilstück wurde er Zweiter. Nah dran zählt für die Sprinter aber nicht. Nur der Sieg gilt als Erfolg. "Mein Team hat niemals den Glauben an mich aufgegeben, und das habe auch ich nicht", so der Australier nach der Etappe.
Dass er es kann, hat Ewan längst bewiesen: Drei Etappensiege beim Giro d'Italia, einer bei der Vuelta, ein Sieg bei den Hamburger Cyclassics und ein zweiter Platz bei Mailand-Sanremo schmücken unter anderem seine Palmarès. Ein Tour-Etappensieg fehlte bis heute - auch weil ihn sein bisheriges Team Mitchelton-Scott nicht für die Tour de France nominierte, worüber der ehrgeizige Ewan vernehmbar verärgert war. Auch deswegen verließ der 25-Jährige den australischen Rennstall und heuerte beim belgischen Lotto-Soudal-Team an, wo er den in die Jahre gekommenen André Greipel ersetzte. Hier erhielt er das Vertrauen und auch einen richtigen Sprintzug, der ihn in den Etappenfinals sehr oft in perfekter Ausgangsposition abliefert.
Seine Sprint-Position entstand im Windkanal
Was dann folgt ist ein Ritt auf der Rasierklinge. Ewans Sprintstil ist extrem, auch sein Körpereinsatz im Kampf mit den anderen Sprintern. Ewan misst nur 1,65 Meter und ist damit ein gutes Stück kleiner als seine Konkurrenten. Doch er kann sich kraftvoll durchsetzen, fährt die Finals ziemlich unerschrocken. Den größten Vorteil erzielt er aber durch die geringe Stirnfläche, die er dem Fahrtwind bietet. Durch die Körpergröße und die extrem geduckte Haltung erreicht er auf einer flachen Straße eine sehr hohe Endgeschwindigkeit - und genau darum geht es im Sprint. Ewan selbst nannte es in einem Interview mit dem Global Cycling Network einmal "eine lächerliche Position", in der er da sprintet, schob aber nach, dass sie kein Zufallsprodukt ist. Er und sein damaliges Team haben sie im Windkanal ausgearbeitet. "Dort haben wir gesehen, welchen Unterschied es macht, so zu fahren." Die Position fällt allerdings in die Kategorie "machen Sie das nicht zuhause nach", denn Ewan sieht von der Straße vor ihm kaum etwas und nennt seine Haltung auf dem Rad selbst "angsteinflößend. Du musst Deinen Oberkörper so weit nach vorne schieben, dass dein Gesicht zum Boden blickt."
Abgeschaut hat er sich diese Position übrigens von Mark Cavendish, seinem Vorbild. Der Sprinter war der erste so genannte "Aerosprinter". Und Ewan geht noch ein Stück weiter als der britische Starsprinter, der 30 Tour-Etappen gewann, dem Rennen aber in diesem Jahr fehlt. Dieser Rennfahrertyp benötigt im Vergleich zu größer gewachsenen, endschnellen Fahrern weniger Kraft für die gleiche Geschwindigkeit - und hat noch einen weiteren Vorteil: Cavendish und Ewan bieten den hinter ihnen fahrenden Konkurrenten kaum Windschatten.
Nächster Traum: die Champs-Elysées
Sein Weg an die Spitze scheint seit langem vorgezeichnet: Caleb Ewan hat eine koreanische Mutter und einen australischen Vater. Er stammt aus der Metropole Sydne, wo er früh mit dem Radsport begann. Inspiriert von seinem Vater, der ebenfalls Radprofi war, fuhr Ewan schon mit acht Jahren sein erstes Rennen. Erfolgreich war er zunächst auf der Bahn und wurde 2011 Junioren-Weltmeister. Im Jahr darauf wurde er bereits Vizeweltmeister auf der Straße bei den Junioren und schaffte 2014 mit gerade einmal 19 Jahren ungewöhnlich früh den Sprung zu den Profis. Dort arbeitete er sich mit inzwischen 36 Karriere-Siegen in die absolute Weltspitze der Sprinter vor.
Nun, da die Tour de France in die Pyrenäen kommt, wird Ewan ganz weit am Ende des Rennens gegen das Zeitlimit kämpfen. Alles mit einem weiteren Traum vor Augen: Einem Etappensieg auf den Champs-Elysées in Paris.