Cannes: Ukrainischer Film zeigt Kriegstrauma
24. Mai 2022Als eine ukrainische Soldatin nach zwei Monaten feindlicher Gefangenschaft nach Hause zurückkehrt, ahnt sie noch nicht, dass sie schwanger ist. Der Vater ist der Gefängniswärter, der sie während ihrer Zeit als Kriegsgefangene vergewaltigt hat. Davon erzählt der Spielfilm "Butterfly Vision", der auf den Filmfestspielen in Cannes im Nebenprogramm "Un Certain Regard" (deutsch: "Ein besonderer Blick") Premiere feiert. DW hat vor der Premiere des Films am 25. Mai mit dem Regisseur Maksym Nakonechnyi gesprochen.
Deutsche Welle: Herr Nakonechnyi, wie ist "Butterfly Vision" entstanden?
Maksim Nakonechnyi: Seit der Invasion der Krim 2014, als der russische Krieg gegen die Ukraine begann, wollten ich und meine Filmemacher-Kollegen etwas tun. Wir haben viele Filme über die Situation gedreht. Viele meiner Freunde mussten in den Militärdienst, darunter auch viele Frauen. Und ich hörte dann ihre Geschichten, ihre Erfahrungen.
Als ich im Schnitt von meinem Dokumentarfilm "Invisible Battalion" saß, der die Geschichte von Frauen, Veteranen und weiblichen Soldaten erzählt, hörte ich gewisse Aussagen und Szenen immer und immer wieder. Ihre Perspektive hat mich tief beeindruckt.
Obwohl es sich bei "Butterfly Vision" um einen Spielfilm handelt, wurden Sie von wahren Geschichten inspiriert. Wie sehr haben die echten Fälle und Geschichten, die Sie gehört haben, den Film beeinflusst?
Es gab diesen einen Satz einer Soldatin über ihre Gefangenschaft, der mir durch und durch ging. Die Soldatin sagte, dass die Gefangennahme das Allerschlimmste für sie gewesen sei. Sie wollte nicht, dass die Russen wissen, dass sie eine Frau ist. Sie hatte sogar den Deal mit ihren Mitkämpferinnen, dass sie sie töten sollten, falls sie Gefahr liefe, in russische Gefangenschaft zu geraten.
Ausgehend von dieser Aussage begann ich zu recherchieren: erst mit meinem Co-Autor, dann gemeinsam mit der Hauptdarstellerin. Wir sprachen mit unterschiedlichen Teilnehmern an Kriegsverbrechen: Augenzeugen, Opfern - wir sammelten ihre Geschichten. Und wir sammelten nicht nur die Fakten, sondern schauten uns auch an, wie sie mit dem Erlebten umgingen, nachdem sie die Ereignisse überlebt hatten. All das ist in den Film miteingeflossen, zum Beispiel beim Schauspiel oder der Arbeit mit der Kamera.
Der Film wurde im Donbass gefilmt. Wie schwierig, wie gefährlich war es, dort zu arbeiten?
Während der Recherche besuchten wir unsere Soldatinnen und Soldaten an der Front, um uns mit der Umgebung und den Details vor Ort vertraut zu machen. Da mussten wir gewisse Sicherheitsmaßnahmen ergreifen zu unserem eigenen Schutz.
Die Drehorte befanden sich nicht an der tatsächlichen Front, aber die Szene über den Gefangenenaustausch wurde im Donbass gefilmt. Ausgewählt hatten wir den Ort im Jahr 2020, die Dreharbeiten fanden zu Beginn des Jahres 2021 statt. Da vergrößerten die Russen gerade ihre Kontingente an unseren Grenzen.
Wir waren gerade dabei, unsere Ankunft am Drehort vorzubereiten, als sich die lokalen Behörden mit uns in Verbindung setzten und uns sagten, dass es zu gefährlich sei, dort zu filmen. Wir müssten etwas weiter entfernt von der Grenze drehen.
Das war eine der Gefahren: Es bestand die Möglichkeit, dass die Russen an unserem Drehort einmarschieren.
Jetzt, wo Ihr Film erscheint, hat das eine noch größere Bedeutung. Inzwischen ist Russland in die Ukraine einmarschiert.
Nun, bevor der ganz große Einmarsch begann, als man unseren Krieg noch einen "eingefrorenen Konflikt" nannte, sowohl international als auch in der Ukraine selbst, gab es schon einen Graben, auch in der Ukraine.
Das war eine schwierige Situation für die Soldatinnen und Soldaten und die Menschen, die die Schrecken des Krieges erlebt hatten und ins friedliche zivile Leben zurückkehrten. Es war schwierig, weil ihren Erfahrungen mit einer gewissen Gleichgültigkeit begegnet wurde von den Menschen, die nichts dergleichen erlebt hatten.
Jetzt, wo es alle ukrainischen Bürgerinnen und Bürger betrifft, jede ukrainische Familie und jeden Haushalt, ist klar geworden, dass man etwas nicht wirklich verstehen kann, bevor man es nicht selbst erlebt hat. Aber du kannst dir wenigstens darüber bewusst sein - und das ist der Schlüssel zum Zusammenleben als Gesellschaft.
Diese Erkenntnis war vor dem Einmarsch leider noch nicht so präsent. Das war auch einer der Gründe, warum wir den Film machen wollten.
In Cannes wird viel über ukrainische Filme und Geschichten gesprochen. Was hoffen Sie, werden die Menschen davon mitnehmen?
Erst einmal ist die Anwesenheit von ukrainischen Künstlerinnen und Künstlern bei so einem großen und bekannten Festival ein Beitrag zu unserem Kampf ums Überleben, denn unsere kulturelle Identität wird gerade angegriffen. Deshalb ist jeder Erfolg der ukrainischen Kultur, jeder Ort, an dem sie laut und sichtbar ist und wahrgenommen wird, ein Beitrag zu ihrem Überleben, dazu, sie lebendig zu halten und ihr zu ermöglichen, sich weiterzuentwickeln.
Das ist eine Sache, von der ich hoffe, dass ein internationales Publikum sie mitnimmt, wenn es meinen Film geguckt hat: Die Menschen wissen, dass wir hier sind, nicht nur dort, wo der Krieg stattfindet. Es geht viel weiter, es beeinflusst alle Lebensbereiche.
Aber ich würde mich auch freuen, wenn der Film Gedanken über die Zukunft anstößt, denn er erzählt eine Geschichte über das Überleben. Eine Geschichte über den Überlebenswillen, über den Willen, weiterzukämpfen. Und ich hoffe, dass er einen Beitrag zu unserem Überleben leisten wird, dass wir als ukrainische Gesellschaft weiterkämpfen, und auch alle anderen progressiven demokratischen Gesellschaften weltweit.
Vor dem Krieg wurden ukrainische Geschichten außerhalb des Landes vielleicht eher so wahrgenommen, dass sie stark von russischen Geschichten beeinflusst seien. Glauben Sie, die Art und Weise, wie die Ukraine nun gesehen wird, hat sich verändert?
Ukrainische Geschichten und ukrainische Perspektiven liefen vielleicht das Risiko, aufs Abstellgleis zu geraten. Es hätte sich eine Müdigkeit einstellen können; für die Menschen im Ausland war das Gefühl, der Krieg, der 2014 begann, sei irgendwie vorbei. Deshalb fragten sie sich, warum ukrainische Filmemacher weiterhin Geschichten über den Krieg erzählen wollten. Jetzt ist ganz offensichtlich warum.
Und natürlich gab es diese falsche Annahme, die falsche Wahrnehmung der Ukraine als Teil einer größeren "post-sowjetischen imperialen Kultur", wenn man es so nennen will. Das war natürlich das Ergebnis von Propaganda.
Jetzt hoffen wir, dass es da ein Umdenken gibt und dass man das nicht mehr zurückdrehen kann. Wir hoffen, dass wir nun als authentische Akteure und Teilnehmende an einem globalen kulturellen Prozess wahrgenommen werden, dass man unsere Identität anerkennt, in all ihren Aspekten - kulturell, politisch, sozial, existenziell, metaphysisch - und dass diese post-koloniale Identität anerkannt wird als eine separate, souveräne Identität, mit allen Konsequenzen.
Das Gespräch führte Scott Roxborough.
Übersetzung ins Deutsche: Christine Lehnen