Die zehn vergessenen humanitären Krisen
28. Januar 2020Der Herbst-Heerwurm ist eine Schmetterlingsart aus der Familie der Eulenfalter. Eigentlich ist er im tropischen und subtropischen Amerika heimisch, wurde aber vor einiger Zeit auch nach Afrika eingeschleppt. Das heiße Klima tut ihm gut: Er gedeiht und vermehrt sich nach Kräften.
Längst ist der Schmetterling auch in Madagaskar heimisch, wo er in Scharen der Landwirtschaft zusetzt. Reis, Mais und Maniok fallen dem Eulenfalter zum Opfer, so sehr, dass er im Zusammenspiel mit dem Wetterphänomen El Niño die Ernteerträge massiv gedrückt hat.
Die Folge: Die Preise für die Grundnahrungsmittel sind massiv gestiegen - und zwar so sehr, dass viele Familien gezwungen sind, ihren Besitz zu verkaufen, um ihre Nahrung bezahlen zu können. Oftmals reicht aber selbst das nicht: Viele Bürger des Landes haben die Zahl ihrer Mahlzeiten reduziert.
Über 2,6 Millionen Menschen litten Ende 2019 an den Auswirkungen der Dürre, die durch den Herbst-Heerwurm noch verstärkt wurden. Über 916 000 Menschen - ein gutes Viertel der Bevölkerung - sind auf Nahrungsmittel angewiesen. Denn das Einkommen der meisten Madegassen reicht nicht zum Überleben: Drei Viertel der Bevölkerung leben von weniger als 1.70 Euro pro Tag.
So hat Madagaskar die vierthöchste Rate an chronischer Unterernährung weltweit, jedes zweite Kind unter fünf Jahren ist unterentwickelt. Dies beeinträchtigt ihre kognitive und körperliche Gesundheit erheblich und erhöht das Risiko, zu erkranken: Anfang 2019 gab es gleichzeitig einen ungewöhnlich großen Masernausbruch mit mehr als 127 000 bestätigten Fällen und das saisonale Auftreten der Pest. Diese Krankheiten betrafen vor allem Kinder.
"Suffering in Silence" - Leiden in der Stille
So schwer die humanitäre Lage in Madagaskar ist, so wenig wird sie in der globalen Öffentlichkeit wahrgenommen. Darum gehört sie zu jenen zehn keine oder kaum Schlagzeilen produzierenden Krisen, über welche die Hilfsorganisation CARE in ihrem Bericht "Suffering In Silence" informiert.
Anders stellt sich die Lage in der Zentralafrikanischen Republik dar. Der jüngste interne Konflikt brach 2013 aus und verschärfte sich 2017. Durch die Kämpfe sind viele Menschen vertrieben worden. Zwar wurde Anfang 2019 ein Friedensabkommen unterzeichnet, doch die Sicherheitslage ist weiterhin angespannt. Rund 2,6 Millionen Menschen – über die Hälfte der Bevölkerung - sind dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Die Menschen in Burundi hingegen leiden unter menschengemachten Problemen ebenso wie unter schwierigen klimatischen Bedingungen. Auf der einen Seite die politische Unsicherheit, hohe Armut und eine schwierigen Menschenrechtssituation, andererseits Naturkatastrophen, Malaria-Epidemien und ein möglicher Ebola-Ausbruch: Viele Menschen wurden in die Flucht getrieben.
Derzeit suchen noch knapp 326.000 Menschen Schutz in Nachbarländern wie Ruanda, Uganda und der Demokratischen Republik Kongo. Viele haben während der Flucht ihr Land verloren, über 106.000 Menschen in Burundi sind Vertriebene im eigenen Land.
Die Gründe des Desinteresses
Trotz dieser katastrophalen Bilanz schaffen es diese und andere Krisen nicht auf die Bühne der Weltöffentlichkeit. Dafür gebe es viele Gründe, sagt Sabine Wilke, Abteilungsleiterin Kommunikation und Advocacy bei CARE: "Zum einen erhalten Länder und Krisen, die von hohem politischen Interesse sind - gerade Konflikte im Nahen Osten - entsprechend hohe mediale Aufmerksamkeit. Das gilt auch für die humanitäre Lage, die viel stärker in den Fokus rückt."
Die Aufmerksamkeit richte sich in aller Regel viel stärker auf diese Regionen als auf jene, die nur selten von internationalen Staats- und Regierungschefs besucht würden. "Auch die geopolitische Bedeutung von Ländern spielt eine Rolle. Zum anderen vermuten wir, dass es auch eine gewisse Wechselwirkung gibt: Sobald ein Leitmedium über eine Krise berichtet, tun das auch andere", erklärt Wilke.
Neun der zehn von CARE vorgestellten Krisen ereignen sich in Afrika. In Sambia leiden die Menschen unter dem Klimawandel: Hitze und Dürre setzen der Ernte zu, immer mehr Menschen brauchen Hilfe. In Kenia sind es Fluten und Dürre. Und am Tschadsee erleben die Anrainer, welch dramatische Folgen der sinkende Wasserspiegel auf ihre Lebensqualität hat. Die einzige humanitäre Krise außerhalb Afrikas ist das Elend der unter einer kommunistischen Diktatur leidenden Menschen in Nordkorea.
Ökonomie der Aufmerksamkeit
Zwar ist Afrika vielfach Thema in westlichen und insbesondere europäischen Medien. Doch eben das, sagt Sabine Wilke, stehe weiterer Berichterstattung entgegen: "Die vielen Schwierigkeiten des Kontinents führen in den Redaktionen leicht dazu, dass sie über weitere Krisen im Zweifel nicht mehr berichten." So habe etwa die Ebola-Krise lange Zeit internationale Aufmerksamkeit erhalten. Das schrecke dann offenbar ab, über andere Krisen zu informieren. "Es zeigen sich gewisse Ermüdungserscheinungen", so Wilke.
Zwar spielt Afrika angesichts der Flucht- und Migrationsbewegungen gerade für Europa eine immer größere Rolle. Doch die in dem CARE-Bericht genannten Länder stünden dennoch nicht im europäischen Fokus. "Madagaskar etwa ist ein Inselstaat. Um von dort vor chronischer Armut, Perspektivlosigkeit und Hunger zu fliehen, muss man schon einiges auf sich nehmen."
Auch die Zentralafrikanische Republik oder Sambia sind keine klassischen Migrationsländer. Diese Länder seien zu weit von der Sahelzone und der Migrationsroute nach Norden entfernt. Zudem fehlten den Menschen dort schlicht die Mittel zur Migration. "Sie sind so arm, dass sie kaum eine Perspektive sehen, ihr Land zu verlassen", erläutert Sabine Wilke.
Unbeachtete Krisen und ihre Konsequenzen
Die Konsequenzen der unbeachteten Krisen sind hoch. Sie tragen dazu bei, dass heute rund 160 Millionen Menschen Unterstützung in Form von humanitärer Hilfe benötigen. Dafür, so CARE, würden 26 Milliarden Euro benötigt - das Fünffache dessen, was 2007 von den Vereinten Nationen geschätzt wurde
Der CARE-Bericht will die globale Aufmerksamkeit auf die bislang übersehenen Krisen richten. Er richte sich darum vor allem an drei Gruppen, sagt Sabine Wilke: an Regierungen und Politiker, an die Hilfsorganisationen selbst, aber an allererster Stelle an die Medien: "Der Bericht will ihnen bewusst machen, welche Rolle und Möglichkeiten sie haben, zum Agenda-Setting beizutragen. Wir wollen sie ermutigen, Themen auch unabhängig von Klick-Zahlen aufzugreifen."
Die Medien spielten eine enorme Rolle, lautet Wilkes Fazit. Denn nur, wenn Menschen von humanitären Krisen wüssten, könnten sie helfen, sie zu lösen.