Albanien: Warum zündet die Opposition Rauchbomben?
22. November 2023Flammen auf den Abgeordnetenbänken, Stuhlbarrikaden vor dem Rednerpult und so dichter Rauch, dass Premierminister Edi Rama kaum noch zu sehen ist: Bei den Verhandlungen über den Haushalt 2024 im albanischen Parlament spielten sich am Montag, 20.11.2023, chaotische Szenen ab.
Verantwortlich für das Durcheinander: Abgeordnete der oppositionellen Demokratischen Partei (DP), angestachelt und angeführt vom früheren Premierminister Sali Berisha. Seit Wochen kommt es immer wieder zu solchen Zwischenfällen im Parlament. Abgeordnete zünden Rauchbomben und rangeln miteinander. Als die Unruhestifter Anfang November des Parlaments verwiesen wurden, kletterten sie kurzerhand durchs Fenster wieder zurück in das Gebäude.
Ex-Premier Berisha selbst erklärte am Montag, Ziel der Parlamentsblockade sei es, "die verfassungsmäßigen Rechte der parlamentarischen Opposition und der Oppositionellen, die durch die Mehrheit der Sozialistischen Partei im Parlament verletzt wurden, wiederherzustellen." Aber warum?
Für die Verfassung - oder für das Familienvermögen?
Die Demokratische Partei rief die politische Störkampagne Anfang November unter dem Motto "Kampf im Parlament, Dialog mit den Bürgern" ins Leben. Als eine von zwei großen Parteien dominiert die DP neben der regierenden Sozialistischen Partei (SP) von Premierminister Edi Rama die Politik in Albanien.
Jahrzehntelang leitete Sali Berisha die Geschicke der Partei, die er 1990 mit Studenten, Intellektuellen und jungen Arbeitern gegründet hatte. 1992 wurde Berisha mit der DP der erste nicht-kommunistische Staatspräsident nach der Hoxha-Diktatur, ab 2005 war er für zwei zwei Amtsperioden lang Premierminister.
Ende Oktober 2023 wurden Berisha und sein Schwiegersohn wegen "gemeinschaftlicher passiver Korruption" von der albanischen Sonderermittlungseinheit gegen Korruption und organisierte Kriminalität (SPAK) angeklagt. Bei der Privatisierung des Trainingsgeländes eines Sportvereins in Tirana soll es zu unrechtmäßigen Absprachen gekommen sein, so der Vorwurf. Auf dem früheren Sportgelände wurden inzwischen diverse mehrstöckige Gebäude errichtet.
Der Schwiegersohn des ehemaligen Ministerpräsidenten wurde im Oktober verhaftet. Berisha selbst, der über diplomatische Immunität verfügt, wurde angewiesen, sich zwei Mal pro Monat bei den Behörden zu melden. Außerdem darf er das Land nicht mehr verlassen. Berisha behauptet, die Anweisungen der SPAK seien verfassungswidrig. Zu seinen beiden Meldeterminen im November erschien er nicht.
Stattdessen rief er zu den Parlamentsprotesten auf. Parteiinterne Gegner behaupten, dass Berisha seine Partei instrumentalisiere, um durch die Parlamentsblockade und die Bürgerdialoge seine eigenen Interessen durchzusetzen - nämlich: sein Familienvermögen vor weiteren SPAK-Ermittlungen zu schützen.
Krise innerhalb der Demokratischen Partei
Die aktuellen politischen Spannungen und das Chaos im Parlament fallen nicht nur mit den Ermittlungen gegen Berisha zusammen, sondern auch mit einer sich zuspitzenden Krise in seiner Partei.
"Die absurde Situation im Parlament ist auf die tiefe Krise innerhalb der Demokratischen Partei zurückzuführen, der größten Oppositionspartei in Albanien, die gerade de facto auseinanderfällt", erklärt Aleksander Cipa, Vorsitzender der Vereinigung Albanischer Journalisten (UAJ) gegenüber der DW. "Hauptprotagonist dieser Krise ist Berisha."
Alles begann vor zwei Jahren, als Berisha aus der Fraktion der Demokratischen Partei Albaniens ausgeschlossen wurde, nachdem die USA ihn der Korruption beschuldigt und mit einer Einreisesperre belegt hatte. Daraufhin zerfiel die DP in zwei Gruppen: Unterstützer des Ex-Premiers - und dessen Gegner. Ein hässlicher Streit um die Parteiführung entbrannte, den Berisha unter anderem durch einen Sturm auf die Parteizentrale im Januar 2022 für sich entscheiden wollte. Seit 2021 haben es beide Splittergruppen nicht geschafft, sich wieder zusammenzuschließen, sondern zerfleischen sich immer weiter.
"Berisha nimmt sowohl die Koalition als auch die Parteibasis als Geisel. Sein Vorgehen lässt vermuten, dass die DP nur unter einer Bedingung zusammengeführt werden kann: Entweder kommt er selbst zurück an die Macht, oder er selbst vertraut sie jemand anderem an", sagt Aleksander Cipa.
Fatos Tarifa, Professor für Soziologie und Internationale Beziehungen an der New York University in Tirana, kann sich eine Zukunft mit Berisha nicht vorstellen.
"Die einzige Lösung für die Demokratische Partei ist es, Berisha ein für alle Mal loszuwerden, sich offen der Kritik zu stellen, sich neu zu strukturieren, hinter einen unvoreingenommenen und echten demokratischen Anführer zu stellen und aktiv im Parlament sowie am politischen Leben des Landes teilzunehmen", sagt er.
Autoritäre Führung durch die Sozialistische Partei
Doch Berisha ist nicht allein verantwortlich für die gewaltsamen Zwischenfälle und den kritischen Zustand, in dem sich die albanische Demokratie zurzeit befindet.
"Der derzeitige Protest der Opposition überschneidet sich mit verschiedenen Krisen in Albanien", sagt Lutfi Dervishi, Politologe und früherer Leiter von Transparency International Albania. "Das Parlament funktioniert nicht richtig, was an der Arroganz und dem bewussten Ignorieren der Verfassung seitens der Sozialistischen Partei liegt, welche dort die Mehrheit hat." So habe die Sozialistische Partei zum Beispiel die Forderung der DP nach einer Untersuchungskommission, welche Korruptionsermittlungen überprüfen soll, abgelehnt. "Das ist ein verfassungsmäßiges Recht, das die Sozialistische Partei der Opposition verwehrt", sagt Dervishi.
Der Politologe listet eine ganze Reihe von Vorfällen auf, die seiner Meinung nach zeigen, dass die Sozialistische Partei zunehmend autoritär regiere.
"Einzelne Personen haben extrem viel Macht und es gibt keine Absprachen bei kontroversen Entscheidungen", so Dervishi. "Zuletzt ist das beispielsweise deutlich geworden, als es um das Abkommen zwischen Albaniens Premierminister Edi Rama und Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni ging. Sie haben vereinbart, in Albanien zwei Asyl-Zentren aufzubauen, um Tausende von Migranten aus Nordafrika und dem Nahen Osten, die über das Mittelmeer nach Italien fliehen, aufzunehmen. Andere Politiker wurden über das Abkommen komplett im Dunkeln gelassen, es gab überhaupt keine Transparenz", sagt Dervishi.
Der Bruch in der DP sorgt dafür, dass Albanien ohne schlagkräftige Opposition dasteht. Experten sind sich einig, dass Albaniens Opposition in drei Jahrzehnten Postkommunismus noch nie so schwach war wie jetzt. Selbst in der Chaos-Sitzung am Montag konnte die DP mit ihren Rauchbomben und Stuhlbarrikaden nicht verhindern, dass die Sozialistische Partei mit ihrer Parlamentsmehrheit den Haushalt für 2024 beschloss.
"Es gibt zurzeit keine politischen Alternativen in Albanien. Premierminister Edi Rama ist momentan stärker als jemals zuvor. Die einzige Opposition, die sich seiner Regierung entgegenstellt, ist SPAK", sagt Politologe Dervishi.
Die SP unter Premier Rama stellt inzwischen zum dritten Mal in Folge die Regierung. Das sorgt nicht nur bei der Opposition für Unmut, sondern teils auch in der EU für Kopfzerbrechen.
So äußerte der im Oktober 2023 veröffentlichte Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission über Albaniens Entwicklungen auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft Besorgnis über die unbegrenzte Macht der Regierung und die fehlende Begrenzung dieser Macht durch das Parlament, die Justiz und die albanische Gesellschaft. "Die parlamentarische Kontrolle der Exekutive bleibt begrenzt", so der Bericht. "Öffentliche Anhörungen der Zivilgesellschaft und Interessengruppen blieben formell."
Ein Ende der Kultur der Straflosigkeit?
Der inzwischen 79-jährige Berisha hat über 20 Jahre lang Politik und Justiz im postkommunistischen Albanien dominiert. Während dieser zwei Dekaden gab es massive gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Umbrüche im Land. Die Rolle Berishas während dieser Zeit wird kontrovers diskutiert. So warf die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch Berishas Regierung 1996 Menschenrechtsverletzungen vor. Ihm wird zudem eine Mitverantwortung für den wirtschaftlichen Kollaps in Folge des Bankrotts diverser Schneeballsysteme 1997 vorgeworfen, bei dem das Land in einen bürgerkriegsähnlichen Zustand verfiel.
Immer wieder wurde ihm Vetternwirtschaft, Wahlmanipulation und Bestechlichkeit vorgeworfen. Wegen angeblicher Nähe zum organisierten Verbrechen und Korruptionsvorwürfen darf er seit 2022 nicht mehr ins Vereinigte Königreich einreisen. Er soll immer wieder Druck auf die Justiz ausgeübt haben. Bislang wurde er dafür nicht zur Verantwortung gezogen. Unter ihm habe sich eine "Kultur der Straflosigkeit" etabliert, ist deshalb ein oft genannter Vorwurf.
"Es gibt Behauptungen, dass sein Regieren zu Blutvergießen geführt hat und unschuldige Zivilisten wegen ihm gestorben sind. In all diesen Fällen gab es nie Ermittlungen dazu, egal ob er direkt oder indirekt Verantwortung dafür trägt", sagt Aleksander Cipa.
Durch den Annäherungsprozess Albaniens an die EU hat das Land in den vergangenen Jahren diverse Justizreformen durchlaufen, um den Weg für eine Mitgliedschaft freizumachen. Einige Albaner hoffen nun, dass in einem derart reformierten Justizsystem zukünftig korrupte Politiker nicht mehr straffrei davonkommen werden.
Doch das braucht Zeit, glaubt Politologe Lutfi Dervishi. "Die reformierte Justiz befindet sich noch ganz am Anfang. Es wird dauern, bis Albanien ein gut funktionierendes Justizsystem hat mit Richtern, die über jeden Zweifel erhaben sind. Zurzeit sind die echten Helden die Staatsanwälte und Strafverfolgungsbehörden. SPAK hat es geschafft, dass Amtsträger zum ersten Mal Angst haben", sagt Dervishi. Es gebe Zeichen dafür, dass die Sonderermittlungseinheit bei ihrem Kampf gegen die weitverbreitete Kultur der Straflosigkeit Erfolg habe. "Aber Korruption kann nicht nur von SPAK und Staatsanwälten bekämpft werden. Die Regierung, Medien, die Gesellschaft, der Klerus - sie alle müssen die Korruption bekämpfen. Denn Staatsanwälte werden erst dann tätig, wenn die Verbrechen schon begangen worden sind."
Der Fall Berisha wird zum ersten großen Test für das reformierte Justizsystem. Politologe Fatos Tarifa ist vorsichtig optimistisch. "Ich denke, dass die Justizreform vorankommt. Die Ermittlungen gegen Berisha und seine Familie werden das hoffentlich beweisen", sagt er.