Chile: Ist Impfen allein zu wenig?
15. April 2021Eigentlich dachten viele Menschen in Chile, die Corona-Krise nähere sich in ihrem Land dem Ende: Mitte Januar knickte die nach Weihnachten steil gestiegene Inzidenzkurve in die Waagerechte ab und sank bis Ende Februar. Zu diesem Zeitpunkt galt Chile als "Impf-Champion Lateinamerikas": Bereits 18 Prozent der Bevölkerung hatten eine erste Impfung erhalten. Doch dann zog die Sieben-Tage-Inzidenz wieder an und verdoppelte sich binnen eines Monats von 130 auf 260.
Viele schwere Verläufe trotz Impfungen
Auch die Zahl der schweren Verläufe stieg. Obwohl die Regierung die Zahl der Intensivbetten erhöht hat, erreichten die Intensivstationen in der zweiten Märzhälfte eine kritische Auslastung. Ende März wuchs auch die Zahl der tödlichen Verläufe wieder und die Regierung verschärfte zum 1. April den nationalen Lockdown erneut. In der Woche darauf entschied sie, dass die Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung um fünf Wochen verschoben wird.
Vor allem die hohe Zahl der schweren Verläufe traf Chile wohl etwas unerwartet. Denn die Impfstrategie der chilenischen Regierung gilt als eine der konsequentesten und effektivsten überhaupt: Noch vor China hatte das Land den Impfstoff von Sinovac zugelassen. Es folgten die Präparate von BioNTech/Pfizer und AstraZeneca. Vor einer Woche kam das chinesische Vakzin CanSino hinzu.
Ein Viertel der Menschen vollständig geimpft
Ebenso entschlossen hat die Regierung die Impfstoffe bestellt und ihre Verteilung organisiert. Mittlerweile haben mehr als zwölf der 19 Millionen Menschen in Chile die erste Dosis erhalten. Mehr als fünf Millionen von ihnen, also über ein Viertel der Bevölkerung, ist sogar schon vollständig geimpft. Die Regierung rechnet damit, dass das Land im Juni die angestrebte Herdenimmunität erreicht.
Wenn es im derzeitigen Tempo weitergeht, werden dann tatsächlich mehr als 70 Prozent der Menschen in Chile zweimal geimpft sein. Doch für eine wachsende Zahl von Menschen ist das zu spät. Die Zahl der mit COVID-19 Verstorbenen ist deutlich gestiegen - von rund drei pro Million Einwohner im Sieben-Tages-Durchschnitt Mitte Januar auf aktuell 5,9. Damit steht das Land zwar immer noch deutlich besser da als der Nachbar Peru, wo dieser Wert etwa dem südamerikanischen Durchschnitt von zehn entspricht.
Vorwürfe gegen die Regierung
Doch nach den Erfolgen der letzten Monate klagen viele die Regierung an und werfen ihr Versäumnisse vor. Eine von ihnen ist Simone Reperger von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Santiago de Chile. "Seit Beginn der Impfstrategie konzentriert sich in Chile alles auf das Impfen", sagte Reperger dem Deutschlandfunk. "Andere wichtige Maßnahmen wie Testen, Kontaktnachverfolgung und Prävention werden vernachlässigt."
Die Haltung der Regierung habe die Menschen in Chile zudem zu einer gewissen Sorglosigkeit verleitet: "Dank dem Ranking als 'Impfweltmeister' und dem Kurs der Regierung haben sich die Chileninnen und Chilenen in den letzten Sommermonaten, das waren die Ferien im Januar und Februar, nicht mehr so gut geschützt wie zuvor. Weniger Maskengebrauch, mehr Partys am Strand, in Bars, volle Shoppingcenter."
Lockdown soll die Inzidenz wieder senken
Damit ist nun vorerst Schluss. Grenzen und Geschäfte sind weitgehend geschlossen. Außerdem beinhaltet der vierstufige Lockdown harte Ausgangssperren für die meisten Menschen in Chile.
Abgesehen von etwas Bewegung an der frischen Luft zwischen sechs und neun Uhr morgens, dürfen die Menschen in Kommunen mit der höchsten Alarmstufe die Wohnung nur zweimal pro Woche für notwendige Besorgungen verlassen - und dafür müssen sie sich eine Sondererlaubnis einholen.
In Stufe zwei gilt dies nur an Wochenenden. In Stufe drei darf man auch gut belüftete Restaurants besuchen sowie in begrenzten Gruppen Sport treiben und Freunde besuchen. In Stufe vier sind die erlaubten Gruppen größer. Aktuell befinden sich 244 der 345 chilenischen Kommunen in Stufe eins und 56 in Stufe zwei.
Impfstoffe weniger wirksam als erhofft?
Epidemiologen werfen der Regierung vor, dass sie zu spät reagiert beziehungsweise die Lockdown-Maßnahmen zu früh gelockert habe. Dies habe dem Virus und seinen Varianten die beschleunigte Verbreitung erlaubt. Bisher fehlen Analysen in repräsentativer Zahl, aber es wird vermutet, dass die britische und die brasilianische Variante den Anstieg der Infektionszahlen beschleunigt haben. Dennoch fragen sich viele, wie das trotz der hohen Impfquote geschehen konnte.
Zum einen entfalten die Impfstoffe ihre optimale Wirkung erst etwa zwei Wochen nach der zweiten Gabe. Zudem ist noch nicht abschließend geklärt, inwieweit Impfungen nicht nur die Wahrscheinlichkeit einer schweren Erkrankung, sondern auch die Ansteckungs- und Weiterverbreitungsgefahr senken. Anfang der Woche räumte ein ranghoher Behördenvertreter ein, dass der Impfstoff von Sinovac wohl nur zu 50 Prozent vor einer Ansteckung schütze. Und genau dies ist das Vakzin, das in Chile rund 90 Prozent der Geimpften erhalten haben.