Chinesischer Etikettenschwindel
22. August 2004Der 1997 verstorbene und unter seinem Vorgänger Mao Zedong politisch verfemte Deng leitete Chinas Reform- und Öffnungspolitik ein. Das bedeutet seitdem vor allem: Marktwirtschaft pur unter dem Deckmantel eines angeblichen "Sozialismus chinesischer Prägung". Wieviel Aufschwung hat China seitdem erreicht? Wo bestehen Defizite fort? Ist China mit seinen 1,3 Milliarden Bürgern eine aufstrebende Weltmacht - oder ein politisch fragiles Riesen-Imperium?
Man stelle sich vor, Leonid Breschnew hätte seinerzeit den Abschied von der sozialistischen Planwirtschaft beschlossen und den Aufbau eines kapitalistischen Wirtschaftssystems propagiert. Er und seine Nachfolger hätten dann junge Sowjetrussen zu Studienaufenthalten in "imperialistischen" West-Ländern ermuntert und obendrein noch keck behauptet, dies alles sei kein Abschied vom Ziel des Kommunismus - sondern bloß ein spezifisch sowjetischer Entwicklungsweg dorthin. Schwer vorstellbar? Vielleicht. Und doch: Genau diese Art von Etikettenschwindel mutet, seit gut 25 Jahren, die Volksrepublik China ihren Bürgern zu.
Chinesischer Sozialismus begraben
Der damalige Chefreformer Deng Xiaoping rettete und beerdigte den chinesischen Sozialismus mit einem einzigen, denkwürdigen Satz: "Es ist egal, ob die Katze weiß oder schwarz ist - Hauptsache, sie fängt Mäuse." Oder, anders gesagt: Erlaubt ist seither alles, was volkswirtschaftlichen Erfolg bringt - und damit auch die Herrschaft der Partei sichert. Die Kommunistische Partei Chinas gewährt ihren Bürgern heute zwar Alltags-Freiheiten, die früher völlig undenkbar gewesen wären, zugleich verweigert sie aber den Bürgern jede Art von politischer Mitbestimmung.
Die Partei wacht über eine boomende Volkswirtschaft, die im Westen Bewunderung erregt, die aber rein gar nichts mehr mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hat. Denn der Boom in Schanghai und Peking geht zu Lasten der Landbevölkerung, die immer noch über zwei Drittel der Gesamtbevölkerung ausmacht - und die mit einem System der Aufenthaltserlaubnis von den großen Metropolen ferngehalten wird. Die Bauern - das sind Chinas große Globalisierungsverlierer. Was ein chinesischer Landwirt im Jahr verdient, verpulvert mancher Manager in Peking für ein Mittagsmahl mit Geschäftspartnern.
Mord an Studenten
Deng Xiaoping, der am 22. August 2004 100 Jahre alt geworden wäre, verkörpert diese chinesischen Widersprüche über seinen Tod hinaus. Er war es, der die Weichen gestellt hat für Chinas Aufschwung zur globalen Billiglohn-Werkbank und zum Magneten für internationale Großkonzerne. Er war es aber auch, der 1989 Soldaten auf wehrlose Studenten und andere Demonstranten schießen ließ.
25 Jahre Reformpolitik in China: Das bedeutet, dass ein traditionell geschäftstüchtiges Volk endlich seine planwirtschaftlichen Fesseln abstreifen konnte - wobei noch nicht absehbar ist, in welchem Maße der wirtschaftliche Erfolg in den Städten anderswo zu sozialen Verwerfungen führen wird. 25 Jahre Reformen in China bedeutet aber auch, dass die Intelligenz der Bevölkerung weiterhin mit plumpen Partei-Parolen und nationalistischem Säbelrasseln gegenüber Taiwan beleidigt und in Zaum gehalten wird. Und dass der Drang nach Wohlstand fast der einzige Kitt ist, der die Gesellschaft noch zusammenhält.
Mehr Verantwortung
Positiv ist immerhin: China übernimmt international immer mehr Verantwortung. Das Land ist berechenbarer geworden. Aber der von Chinas Politikern ersehnte Aufstieg zu einer Weltmacht, die ernsthaft mit den USA konkurrieren könnte, der kann nur gelingen, wenn das gesamte Volk wirtschaftlich mitziehen und - vor allem - politisch mitreden darf. Schrittweise Demokratie zu wagen, ohne die Stabilität des Landes aufs Spiel zu setzen - dies erscheint heute als die größte Herausforderung für Deng Xiaopings Erben. Leider muss man feststellen, dass sie damit noch nicht einmal begonnen haben.