Das erste deutsche Sommermärchen
25. November 2015Draußen und umsonst: Die Berliner waren begeistert von der zweiwöchigen Verwandlung des geschichtsträchtigen Gebäudes, in dem heute der Bundestag residiert. Mit vielleicht 500.000 Besuchern hatten die Organisatoren im Sommer 1995 gerechnet - es wurden fünf Millionen. Unter den künftigen Hausherren - der Bundestag war noch nicht von Bonn in die neue alte Hauptstadt umgezogen - war das Projekt aber höchst umstritten. Befürworter und Gegner - allen voran: Bundeskanzler Helmut Kohl - schenkten sich nichts. Die entscheidende Debatte des Hohen Hauses mündete in eine Kampfabstimmung: Die knappe Mehrheit der Abgeordneten votierte für Christos Projekt.
Mehr als 20 Jahre hatten der Künstler und seine inzwischen verstorbene Frau Jeanne-Claude auf diesen Moment hingearbeitet. Sie bohrten ein "dickes Brett": Abgeordnete mussten überzeugt, Regierungsstellen informiert, Lobbyisten eingespannt werden. Der Stolz über den Erfolg stand dem mittlerweile 80-jährigen Künstler noch immer ins Gesicht geschrieben, als Bundestagspräsident Norbert Lammert (im Foto li) nun die Ereignisse von damals in Erinnerung rief.
Zur Eröffnung der Dauerausstellung im Reichstagsgebäude am Mittwochabend war nicht nur Christo gekommen. Das Vernissage-Publikum glich vielmehr einem Who-is-Who des jungen wiedervereinigten Deutschland. Das Lächeln der ehemaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth ging im Blitzlichtgewitter der Fotografen unter.
Ästhetischer Glanzpunkt
Seinen eigentümlichen Zauber schöpfte das Kunstwerk der Christos aus seiner Einfachheit. Mit aluminiumbedampftem Polypropylen-Gewebe ließ er das im Umbau steckende Gebäude überziehen, die mit einem blauen Kunststoffseil verschnürt wurden. Vierzehn Tage glänzte und schimmerte die Draperie unter dem Himmel über Berlin. Ein ästhetischer Glanzpunkt entstand. Er veränderte den Blick der Berliner auf ihre Stadt, der Faltenwurf war Auftakt zur Neuerfindung Berlins.
"Ost- und Westteil der Stadt zeigten wenig Lust auf weitere Vereinigung", schrieb kürzlich eine Zeitung rückblickend, "die einen litten unter der Deindustrialisierung, die anderen unter dem Wegfall von Subventionen". In all der "missmutigen Umtriebigkeit", meinte die Schriftstellerin Monika Maron, stand da plötzlich, "verlockend und flüchtig wie eine Fata Morgana, Christos verhüllter Reichstag, und die Berliner tun etwas, das der Senat seinen öffentlichen Bediensteten in Fortbildungskursen vergebens beizubringen versucht: Sie lächeln."
Christos temporäre Kunst, bis heute in alle Richtungen interpretiert, mag aus dem Berliner Stadtbild verschwunden sein. Aber sie hat Spuren hinterlassen. Für viele Berliner, die sich damals von dem Kunstwerk anlocken ließen, ihre Gäste, für Straßenkünstler, Musiker aus Europa und Neugierige aus aller Welt, bleibt das Ereignis ein Meilenstein der Berliner Geschichte, das auch das Selbstbild der Republik prägt.
"Die Wiese vor dem Reichstag", kommentierte ein Hauptstadtblatt, "war Schauplatz heiterer, friedvoller Gelassenheit". Wer sich daran erinnern möchte, muss wiederum nach Berlin kommen: Die von dem Unternehmer Lars Windhorst als Dauerleihgabe überlassene Dokumentation aus Skizzen, Modellen und Fotografien hängt nun als ständige Ausstellung in den Fluren und Räumen des Reichstages.