Zeitbombe in Afrikas Flüchtlingscamps
9. April 2020Auch ohne Corona wären die Lebensbedingungen in vielen Flüchtlingslagern und Armenvierteln Afrikas schon desaströs genug: Die Gesundheitsversorgung ist vielerorts prekär, Hygienestandards dürftig, die Bevölkerungsdichte hoch. Laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR gelten rund 18 Millionen Menschen in Afrika als Flüchtlinge oder Binnenvertriebene. Experten warnen, dass sich ein Ausbruch von COVID-19 innerhalb eines Flüchtlingslagers schnell zum "Flächenbrand" ausweiten könnte - mit verheerenden Folgen, auch für den Rest der Bevölkerung.
Hilfeschrei aus Uganda
"Als Geflüchtete in Uganda leiden wir sehr unter der Corona-Krise", sagt die 25-jährige Stella Ndapolo. "Wir haben nichts zu essen und leider auch keine Vorräte. Unser größtes Problem ist inzwischen der Hunger." Ein Hilfeschrei aus Uganda, von Stella Ndapolo, die vor Jahren mit ihrer Mutter und vier Geschwistern aus dem kongolesischen Kisangani nach Uganda geflüchtet ist. Nun sei zu befürchten, dass die COVID-19-Epidemie über die Flüchtlinge hereinbricht, was ihre ohnehin schwierige Lage zusätzlich verschärfen würde.
Uganda ist das afrikanische Land, das in den vergangenen Jahren im Verhältnis zur Einwohnerzahl die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat - laut UNHCR insgesamt 1,2 Millionen Menschen. Sie kamen vor allem aus der Demokratischen Republik Kongo, aus Ruanda, aus dem Südsudan und aus Somalia.
Wer neu ankommt, bekommt meist in vom UN-Flüchtlingswerk verwalteten Lagern auf dem Land Zuflucht. Zehntausende haben den Lagern jedoch inzwischen den Rücken gekehrt und sich in Slum-ähnlichen Vierteln in Kampala niedergelassen. Auch die Familie von Stella Ndapolo versucht sich in der ugandischen Hauptstadt mit Straßenhandel durchzuschlagen.
Präsident Yoweri Museveni hat im Zuge der Corona-Krise den Handel stark eingeschränkt. Auch Straßenhandel sei davon betroffen, erzählt Ndapolo. "Wenn uns keiner hilft, werden wir sterben, entweder an Hunger oder an COVID-19. Wir appellieren an die internationalen Hilfsorganisationen, uns zu helfen."
Helfer: Wettlauf gegen die Zeit
Die Viruserkrankung könnte sich in den Armenvierteln an den Rändern der Städte schnell ausbreiten. Noch größer seien jedoch die Gefahren in den Flüchtlingslagern, sagt Ramona Lenz, Referentin für Flucht und Migration bei der Hilfsorganisation Medico International. Im DW-Gespräch erinnert sie daran, dass im größten ugandischen Flüchtlingslager Bidi Bidi ungefähr eine Viertelmillion Menschen Schutz gesucht haben. Auch in den kenianischen Lagern Dadaab und Kakuma lebten Hunderttausende Flüchtlinge.
"Das sind Menschen, die dort auf engstem Raum miteinander leben, die Social Distancing nicht einhalten können, die Händewaschen nicht einhalten können, die kaum Zugang zu medizinischer Versorgung haben und die kaum von den Aufklärungsmaßnahmen erreicht werden, die jetzt von Hilfsorganisationen durchgeführt werden." Man versuche derzeit, dass das Virus gar nicht erst dorthin gelangt, weil man wisse: Wenn es einmal dort ankomme, würden die Folgen verheerend sein, so Ramona Lenz weiter.
"Wir sind in einem Wettlauf gegen die Zeit", sagt Patrick Youssef, stellvertretender Direktor für Afrika beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz: "Neben der normalen Versorgung der Menschen mit dem Allernotwendigsten müssen wir jetzt alles tun, um die Ausbreitung von COVID-19 unter den Flüchtlingen einzudämmen." Das Coronavirus habe das Potenzial, "Afrika zu zerstören", wenn es sich, ähnlich wie in Europa, über den Kontinent ausbreitet. Das Virus könnte für Menschen und Gesundheitssysteme verheerend sein.
Afrika sei aufgrund der vielen bewaffneten Konflikte noch anfälliger gegen diese Bedrohung, so Youssef weiter. "In Burkina Faso haben wegen der Gewalt mehr als 1,5 Millionen Menschen keinen Zugang zu Gesundheitsdiensten." In Somalia seien sogar 85 Prozent der Bevölkerung außen vor, sagt Youssef. "Es ist in der Tat eine große Herausforderung für Afrika, sich einer solchen Pandemie zu stellen."
Informationskampagnen in den Lagern
"Wir leben hier alle zusammengepfercht. Wenn das Virus hier ankommt, gibt es eine Katastrophe", sagt Hamadoun Boukary Barry, Bewohner eines Flüchtlingscamps am Rande der malischen Hauptstadt Bamako. Dort haben vor allem Angehörige der Fulani-Volksgruppe Schutz gesucht, auf der Flucht vor islamistischer Gewalt. "Ich habe Angst. Seit Wochen schlafe ich nachts keine Sekunde. Seitdem dieses Virus in der Welt grassiert, machen wir uns große Sorgen", zitiert die Nachrichtenagentur AFP den Malier. Das internationale Rote Kreuz führt in der Gegend Informationskampagnen über das Coronavirus durch.
Auch im Bakassi-Lager bei Maiduguri im Nordosten Nigerias, einem der größten Lager für Binnenvertriebene auf der Flucht vor der Terrormiliz Boko Haram, herrscht Angst vor dem Coronavirus. Bislang gab es in dem Lager zumindest offiziell noch keinen Fall von COVID-19, aber es ist bekannt, dass die Zahl der Kontaminationen in Nigeria von Tag zu Tag steigt. Es wurden auch Fälle im nördlichen Teil des Landes registriert, wo nur sehr wenige Tests verfügbar sind.
Helfer und lokale Behörden warnen: Wenn das Virus die schätzungsweise zwei Millionen Vertriebenen in der Region um den Tschadsee träfe, die bereits unter absolut beklagenswerten gesundheitlichen und medizinischen Bedingungen leiden, wäre das eine Katastrophe.
Verantwortung der Internationalen Gemeinschaft
Ramona Lenz von Medico International sagt: "Die Lehre, die wir ziehen müssen aus der globalen Verbreitung des Coronavirus, ist, dass die Unterbringung von Menschen in Lagern grundsätzlich gesundheitsgefährdend ist." Es müsse darüber nachgedacht werden, wie man Flüchtlinge in Zukunft menschenwürdig unterbringen könne. Statt zusammengedrängt in Lagern sollte man Flüchtlinge verstärkt dezentral unterbringen. Das sei wichtig zum Schutz der Flüchtlinge selbst, aber auch zum Schutz aller anderen Bürger. Die internationale Gemeinschaft müsse gerade in der Corona-Krise Verantwortung übernehmen. Das gelte für alle Länder, auch für die, die zurzeit alles täten, um sich Flüchtlinge vom Leib zu halten - auch für Deutschland, so Ramona Lenz.