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Infektiologe: "Der Kollaps ist längst da"

Thomas Milz Rio de Janeiro
8. April 2021

Trauriger Rekord: In Brasilien wurden zuletzt mehr als 4200 Corona-Tote in 24 Stunden registriert. Der Infektiologe David Sufiate aus Rio de Janeiro geht im DW-Interview davon aus, dass die Zahlen noch steigen werden.

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Intensivstation in Salvador (06.04.2021)
Versorgung eines Corona-Patienten auf einer Intensivstation in Salvador im brasilianischen Bundesstaat BahiaBild: Felipe Iruata/Agencia EFE/imago images/

Deutsche Welle: Ist die Pandemie in Brasilien außer Kontrolle?

David Sufiate: Es ist schwierig zu definieren, was Kontrolle im Kontext einer Pandemie bedeutet. Aber tatsächlich erleben wir eine Überlastung im gesamten Gesundheitssystem - angefangen bei den Privat-Kliniken bis hin zu den staatlichen Krankenhäusern. Die Lage ist sehr ernst.

Im Fiocruz-Krankenhaus in Rio haben wir seit einem Monat maximale Auslastung - manchmal liegen wir sogar drüber. Derzeit kommen nur dann neue Patienten auf die Intensivstation, wenn andere entlassen werden - oder sterben. Man kann nicht sagen, dass es momentan schlimmer ist - denn wir sind bereits seit etwa drei Wochen überlastet.

Ältere Menschen sind ja bereits geimpft worden. Wer sind die Patienten, die jetzt in die Kliniken kommen?

Auf der Intensivstation des Fiocruz-Krankenhauses, die ich leite, haben wir seit gestern keinen einzigen Patienten mehr über 80. Das zeigt ganz klar, welche Rolle die Impfungen in der Pandemie spielen. Aktuell sind die Jüngeren betroffen. Denn die Politik hält sie an, aus dem Haus zu gehen und sich dem Virus damit auszusetzen. Und die Konsequenz ist, dass sie eben auch krank werden.

Impfungen im Fiocruz-Krankenhaus in Rio de Janeiro (23.01.2021)
Impfungen im Fiocruz-Krankenhaus in Rio de Janeiro (im Januar)Bild: Saulo Angelo/ZUMAPRESS/picture alliance

Welche Altersgruppe ist derzeit am häufigsten betroffen?

Die Mehrheit ist zwischen 30 und 70 Jahren alt. Wenn ich das noch mehr in Altersgruppen eingrenzen soll, würde ich die 40 bis 60-Jährigen nennen, die wohl am schwersten betroffen sind.

Hat sich das Virus verändert?

Es scheint klar zu sein, dass es Mutationen gibt, die infektiöser sind. Im Fiocruz-Krankenhaus können wir auch die Sequenzierung vornehmen. 90 Prozent der derzeitigen Patienten haben die Mutation P.1. Das Virus hat sich also gewandelt und ist leichter übertragbar. Ob dadurch nun der Verlauf der Erkrankung schwerer wird, ist derzeit schwer zu sagen. Laut kleineren Untersuchungen verbreitet sich die Mutation schneller. Es infizieren sich mehr Menschen.

Und damit wird es statistisch gesehen auch mehr Menschen geben, die schwer krank werden. Ob das an der Mutation liegt, können wir aber derzeit nicht sagen. Dazu fehlen Studien.

Bleiben die Patienten nun länger auf den Intensivstationen?

Jüngere Patienten haben größere Reserven und brauchen länger, bis ihre Organe versagen. Sie halten länger durch, wenn man das so sagen darf. Da verlängern sich die Aufenthalte auf den Intensivstationen.

Woran mangelt es in Ihrem Arbeitsalltag auf den Intensivstationen am meisten?

Dort, wo ich arbeite, mangelt es am meisten an Fachpersonal für die Intensivpflege. Es fehlen keine Medikamente oder Geräte. Aber es gibt viele Mediziner, die nicht auf die Intensivstation wollen. Und das macht einen entscheidenden Unterschied. Das gilt auch für andere Bereiche - für Physiotherapeuten, Krankenpfleger und alle anderen Bereiche. Auch ein Jahr nach Beginn der Pandemie ist der Mangel an Fachpersonal immer noch groß.

Aber viele, die im Gesundheitssektor arbeiten, sind nach dieser langen Zeit auch einfach müde.

Aus diesem Grund geben viele Kollegen den Arztberuf auf, viele hören auch auf, auf Intensivstationen zu arbeiten. Sie wollen nichts mehr von Corona hören. Das ist in der Tat sehr dramatisch.

Was könnte die Zentralregierung für Sie tun?

Sie sollten die Leute impfen! Alle Budgets - und alles was an politischem Willen da ist - sollte dafür eingesetzt werden, Massenimpfungen durchzuführen. 4100 Menschen starben kürzlich an einem Tag. Durch Impfungen sind wir in der Lage zu ändern, was wir derzeit in Brasilien erleben.

Die Zentralregierung hat schon gesagt, dass es keinen Lockdown geben wird. Hielten Sie einen Lockdown für angebracht?

Daran gibt es keinen Zweifel. Hier in Brasilien ist die Stadt Araraquara ein gutes Beispiel. Dort gab es einen Lockdown, derzeit gibt es wieder einen, und sie haben gerade Null Tote registriert! Wir brauchen auch ausreichend Mittel. Denn es kann doch nicht sein, dass 700 Patienten einfach sterben, weil sie auf der Warteliste für ein Intensivbett stehen. Wir kommen mit unserer Arbeit einfach nicht mehr nach.

Impfungen werden nicht verhindern, dass die Menschen sich anstecken. Aber sie werden verhindern, dass sich viele gleichzeitig infizieren. Und der Lockdown führt dazu, dass die Leute weniger durch die Gegend laufen. Aber all das wurde ja schon so oft debattiert. Ich weigere mich, jetzt, im April 2021, 14 Monate nach Beginn der Pandemie, den Leuten zu erklären, dass ein Lockdown hilft. Er hilft und ist ein sehr nützliches Instrument. Wir werden auch ein anderes Thema diskutieren müssen: Wie kann die Zentralregierung dafür sorgen, dass die Menschen nicht Hunger leiden? Mehr als 20 Millionen Brasilianer leben derzeit unterhalb der Armutsgrenze. Das ist sehr bedenklich.

Merken Sie, dass mehr arme Leute krank werden?

Das ist ja bei allen Infektionskrankheiten so. Je wohlsituierter, desto sicherer ist man. Reiche Leute können daheim bleiben, sie haben genug Geld dafür. Die Armen nicht. Sie müssen arbeiten gehen, um zu überleben.

Als jemand, der an vorderster Front ist: Mangelt es Ihnen an Unterstützung von der Zentralregierung?

Ich als Arzt, als Infektiologe an vorderster Front, bin sehr entmutigt. Wir sind traurig, weil wir sehen, dass die Gemeinschaft bei der Regierung keine Priorität hat, und dass nicht das priorisiert wird, was priorisiert werden muss. Das ist sehr ernüchternd.

Brasilien | Coronavirus | Jair Bolsonaro
Brasiliens Präsident BolsonaroBild: Eraldo Peres/AP Photo/picture alliance

Aber jetzt, da ein Arzt an der Spitze des Gesundheitsministeriums steht, gibt es doch vielleicht mehr Hoffnung?

Wenn er tatsächlich seine Arbeit machen kann, dann schon. Aber wir wissen ja, dass bei solchen Posten die politischen Verpflichtungen schwerer wiegen als die Fachkompetenz der Person. Ich kann nur hoffen, dass der jetzige Gesundheitsminister die Freiheit hat, um das zu befürworten, was befürwortet werden muss. Und ich hoffe nicht, dass er eine Marionette individueller politischer Interessen wird.

Manche Wissenschaftler rechnen mit noch höheren Todeszahlen. Sind Sie eher Pessimist oder Optimist?

Ich glaube, dass wir noch zwei oder drei Monate mit hoher Sterblichkeit rechnen müssen. Da kann es eventuell 5000 oder 6000 Tote pro Tag geben.

In dem Fall wird alles zusammenbrechen. Kommt dann der Kollaps?

Nein, er kommt nicht erst: Der Kollaps ist längst da. Wir sind mitten drin.

Der Infektiologe David Sufiate arbeitet an vorderster Front in mehreren Krankenhäusern von Rio de Janeiro.

Das Gespräch führte Thomas Milz.