Corona: Das Paradox der Schutzmasken
9. April 2020Mitte März stand bei David Schmelzeisen das Telefon nicht mehr still. Die Anrufer waren Einkäufer von Kliniken und medizinischen Einrichtungen aus dem Kreis Heinsberg, dem ersten deutschen Corona-Hotspot. Sie hatten nur eine Frage: Wo gibt es noch Masken?
Hilfe erhofften sie sich von Schmelzeisen und seinen Kollegen am Institut für Textiltechnik an der RWTH Aachen, der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule. Hier würde man vielleicht wissen, wer wo produziert oder noch Vorräte hat.
Um die Masse der Anfragen besser zu bewältigen, setzte Schmelzeisen eine Webseite auf, die Anbieter und Nachfrager miteinander in Verbindung bringt: Krankenhäuser, Ärzte, Pflegeheime und sonstige Einrichtungen geben an, wie viele Masken welchen Typs sie brauchen. Händler und Hersteller teilen mit, was sie wann liefern können.
"Bisher konnten wir so rund eine Million Masken vermitteln", sagt Schmelzeisen im DW-Gespräch. "Die erste Lieferung von über 50.000 Masken ging an den Kreis Heinsberg."
Auch unseriöse Anbieter
Need-mask.com richtet sich an Profis im Gesundheitssystem, nicht an Privatpersonen, die im Drogeriemarkt oder bei Amazon keine Masken mehr finden.
Wobei sich die Nöte beider Lager gleichen. "Es herrscht viel Verunsicherung", sagt Schmelzeisen. Auch institutionelle Einkäufer seien sich oft nicht sicher, ob und wann ihre Bezugsquellen liefern können. "Der Preis der Masken hat sich zum Teil verzehnfacht. Und es gibt inzwischen auch viele unseriöse Anbieter." Die Betreiber der Seite prüfen zumindest die Plausibilität der Angebote.
Krankenhäuser und Ärzte brauchen Masken, die für den medizinischen Einsatz zertifiziert sind, also OP-Masken oder Atemschutzmasken des Typs FFP2 und FFP3. Nicht geeignet sind dagegen einfache Stoffmasken, wie sie einige Firmen jetzt produzieren, um in der Krise zu helfen.
20x dünner als ein Haar
"Vergleichen Sie mal ein Netzhemd mit einem normalen Anzughemd", sagt Textilingenieur Schmelzeisen. "Dann bekommen Sie eine Vorstellung, wie sehr sich textile Materialien unterscheiden."
Beim sogenannten Meltblown-Verfahren für Filter-Vliesstoffe kommt "schmelzgeblasenes" Polypropylen zum Einsatz. "Die einzelnen Fäden sind etwa zwanzig Mal dünner als ein Haar und werden in bis zu 500 Lagen verwoben", erläutert Bernd Reifenhäuser. "Baumwolle ist sehr viel gröber und hat nicht diese Filterfunktion."
Reifenhäuser ist Chef des gleichnamigen Maschinenbauers aus Troisdorf bei Bonn. Etwa 75 Prozent aller medizinischen Vliesstoffe weltweit werden nach eigenen Angaben auf Anlagen von Reifenhäuser produziert, vor allem in China.
Um etwas gegen die Masken-Knappheit zu tun, ist der Maschinenbauer nun selbst zum Vlieshersteller geworden. Auf seiner Versuchsanlage produziert er täglich genug, um daraus eine Million Masken herzustellen.
Braucht Deutschland eine Masken-Industrie?
Es sei jetzt wichtig, in Deutschland Kapazitäten zur Vliesproduktion aufzubauen, sagte Reifenhäuser dem Bonner General-Anzeiger. Außerdem brauche man Maschinen, um das Vlies zu Masken zu verarbeiten. "Die deutsche Industrie hat sich in den vergangenen Jahren auf kompliziertere Produkte spezialisiert. Jetzt müssen wir den Schritt zurück gehen", so der Unternehmer.
Reifenhäuser fordert eine "strategische Produktionsreserve" und sieht hier die Politik in der Pflicht. Die Bundesregierung hat bereits angekündigt, bis zu 30 Prozent der Investitionskosten zu übernehmen, wenn Firmen in Deutschland noch in diesem Jahr mit der Produktion medizinischer Vliesstoffe beginnen. Pro Anlage soll der Zuschuss maximal zehn Millionen Euro betragen, außerdem könnte es Abnahmegarantien geben.
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) warnt dagegen schon vor einer "neuen Protektionismus-Falle".
Auch David Schmelzeisen vom Institut für Textiltechnik ist skeptisch."Wenn wir irgendwann keine Pandemie mehr haben, können wir in Masken schwimmen."
Made in China
Anlagen für die Vliesproduktion sind hochkomplex und kosten Millionen. Konfektionsmaschinen, die daraus Masken fertigen, sind vergleichsweise schlicht und günstig. Aber beides, Vlies und Masken, sind Cent-Artikel, die nicht ohne Grund vor allem aus China kommen. Nur wenn sie in riesigen Mengen produziert werden, lohnt sich die Produktion.
"Es ist sehr schwierig, daraus in Europa ein nachhaltiges Geschäft zu machen", so Schmelzeisen. "Zumal die Bevölkerung hier normalerweise keine Masken trägt, anders als im asiatischen Raum."
Der Stuttgarter Autozulieferer Mahle zeigt unterdessen, wie eine Alternative zum dauerhaften Aufbau einer nationalen Masken-Industrie aussehen könnte. Das Unternehmen stellt unter anderem Klimaanlagen für Fahrzeuge her, die Filter aus Vlies-Verbundmaterial enthalten.
Umstellung in Rekordzeit
Weil in der Autoindustrie derzeit die Bänder stillstehen, hat Mahle die Produktion auf Filterelemente nach FFP3-Standard umgestellt und mit dem Textilhersteller Triumph eine Firma gefunden, die daraus Masken schneidert. "In weniger als einer Arbeitswoche war das alles unter Dach und Fach", so Mahle-Sprecher Ruben Danisch zur DW, "inklusive Prototypen-Produktion und Aufstellung der Lieferketten."
Filter für 1,5 Millionen Masken könne Mahle pro Monat liefern, so der Sprecher. Wie viele Masken Triumph tatsächlich herstellt - und ob diese auch insgesamt den FFP3-Standard erfüllen, ist allerdings unklar. Der Textilhersteller will sich laut einer Sprecherin nicht zu den Masken äußern.
Weniger zurückhaltend ist der Münchner Autobauer BMW. "Wir steigen selbst in die Fertigung von Atemschutzmasken ein", verkündete Konzernchef Oliver Zipse. "Wir können sehr bald schon mehrere hunderttausend Masken am Tag produzieren."
Auf Anfrage der DW sagte ein Firmensprecher, die Masken seien vor allem zum Schutz der eigenen Mitarbeiter bestimmt, wenn die Produktion wieder anlaufe. Ob es sich dabei um zertifizierte Masken handelt, blieb offen.
Keine Masken für ärmere Länder?
Auch Bund und Länder treten derzeit in China als Großeinkäufer für Masken und Schutzkleidung auf. Die Bundesministerien für Gesundheit und Verteidigung sind dabei, eine "Luftbrücke" für den Transport aus China zu organisieren, hieß es in Berlin. Seitdem sich die Situation in Wuhan entspannt hat, dürfen chinesische Hersteller wieder exportieren.
Auch wenn die weltweite Nachfrage das Angebot noch deutlich übersteigt, ist Textilingenieur Schmelzeisen zuversichtlich, dass Deutschland und andere europäische Länder ihr Maskenproblem in absehbarer Zeit lösen können - ähnlich, wie das auch bei Desinfektionsmitteln zu gelingen scheint.
Sorgen macht er sich dagegen, dass afrikanische Länder oder auch Indien beim Run auf die Masken das Nachsehen haben. Er plant deshalb, die Webseite need-mask.com mit internationalen Textilverbänden zu einer weltweiten Plattform auszubauen.