Die Pandemie schafft Platz fürs Rad
18. April 2020"Sie als Radfahrerin sollen geschützt werden in dieser Pandemie. Denn auch beim Überholen müssen Sie 1,5 Meter Abstand halten", sagt Felix Weisbrich und zeigt auf einen gelben Strich auf der Straße, der anzeigt, bis wo der neue Radstreifen geht. Gut einen Meter breiter als vorher ist er. Weisbrich ist Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes Friedrichshain-Kreuzberg.
Seit Beginn der Pandemie in Berlin nimmt er den Autofahrern Platz weg. Er verbreitert Radstreifen, wo es nötig ist und ordnet dort welche an, wo noch keine waren. In der Rad-Community wird er schon als Held der Verkehrswende gefeiert.
Doch Weisbrich winkt ab: "Es geht darum, gerade Verkehrsteilnehmern aus systemrelevanten Berufen einen sicheren Arbeitsweg mit geringem Infektionsrisiko zu ermöglich." Ärzte, Krankenpfleger oder auch Journalistinnen sollen schnell und sicher zur Arbeit kommen, U- und S-Bahnen dadurch leerer werden.
Corona ändert den Verkehr
Was lange nicht möglich war, gelingt der Corona-Pandemie: mehr Platz zu schaffen für Radfahrer und Fußgänger. Das gelingt auch, weil der Autoverkehr bis zu 40 Prozent abgenommen hat, da viele Beschäftigte im Homeoffice arbeiten. Das Fahrrad hingegen wird zum bevorzugten Krisenverkehrsmittel. Sogar viele Politiker empfehlen den Umstieg aufs Rad, um volle Bahnen zu vermeiden.
Die Fahrt mit dem Rad durch Berlin ist so angenehm wie selten zuvor. Leer ist es besonders da, wo sonst die Touristen flanieren: rund um das Wahrzeichen Brandenburger Tor oder am Gendarmenmarkt zum Beispiel. Doch auf den Hauptverkehrsstraßen strömen weiter Autos in kurzer Taktung durch die Stadt.
Die Infrastruktur der Stadt ist noch immer primär auf das Auto ausgerichtet. An vielen Orten sind die Gehwege eng, ein Radweg nicht vorhanden, dem Auto hingegen stehen zwei Spuren und noch eine weitere Parkspur zu. Und oft finde ich mich als Radfahrerin neben dicken 40 Tonner-Lastern wieder und hoffe, dass ich beim Abbiegen nicht übersehen werde.
"Die Grünen hassen Autos"
Timur Hussein steht an der neuen Radverkehrsanlage am Kottbusser Tor im Bezirk Kreuzberg und zählt die vorbeifahrenden Radfahrenden. "17 in einer Stunde - das ist ja wohl gar nichts. Niemand braucht diese Streifen", sagt der Kreisvorsitzende der örtlichen CDU und fügt hinzu: "Das ist grüne Ideologie. Diese Aktion ist einfach gegen Autofahrer gerichtet und bringt den Fahrradfahrern überhaupt gar nichts. Die Grünen hassen Autos und das ist ein Teil ihres Planes!"
Behördenchef Weisbrich wehrt ab. Er sei kein Politiker, sondern in der Verwaltung, und setze nur die Maßnahmen der Bundesregierung durch: "Meine Aufgabe ist es, die Menschen zu schützen, und das tue ich."
Umsetzung in Windeseile
Gerade mal drei Tage hat es gedauert von Weisbrichs Idee bis zur Umsetzung der neuen Radstreifen. "Laut Straßenverkehrsordnung dürfen wir bei geändertem Verkehrsaufkommen schnell handeln und auch temporäre Radwege anordnen. Ohne Beschlüsse der Parlamente", sagt Weisbrich und verschweigt nicht, dass das nur möglich war, weil niemand die Maßnahmen politisch zerredet hat. Wo sonst Bezirks- oder Stadtparlamente tagen, diskutieren und vertagen, handelt die Verwaltung nun im Eilverfahren. Weisbrich hat sogar ein neues Wort eingeführt: "Pandemieresiliente Infrastruktur".
Am Ostersamstag wurden rund um beliebte Parks und Wochenmärkte die Straßen zum Flanieren geöffnet, damit die Menschen mehr Platz zum Abstand halten haben. "Wir werten das jetzt aus und schauen, ob wir das ausweiten können", schreibt Weisbrich auf Twitter.
Vision für die Stadt
Antje Heinrich wohnt im hippen Ausgehviertel Kreuzberg - vor ihrer Tür gleich mehrere Bars, zur Zeit alle geschlossen, ein Parkstreifen und dann eine Durchgangsstraße mit schmalem Radweg. "Der ist meist zugeparkt von Zulieferern oder Autos, die kurz mal parken wollen", ärgert Heinrich sich. Sie hat, wie 40 Prozent der Berliner, kein eigenes Auto.
Die Übersetzerin engagiert sich in ihrer Freizeit für den Verein Changing Cities e.V. Lange haben die Mitglieder für ein Mobilitätsgesetz gekämpft - 2018 kam es und sicherte Radfahrerinnen in der Stadt eine bessere Infrastruktur zu. "Die breiten Radwege, die jetzt angeordnet werden, stehen im Gesetz, bisher hat nur die Umsetzung viel zu lange gedauert", sagt die Berlinerin. Umso begeisterter ist die Aktivistin von den neuen Pop-Up-Fahrradstreifen.
Die Corona-Pandemie ist für sie auch eine Chance, ihre Visionen einer echten Verkehrswende durchzusetzen: "Wenn ich durch die Straßen gehe, überlege ich mir immer, wie es wäre: eine Stadt ohne Autos. Wir könnten die Parkplätze umfunktionieren, Blumen pflanzen, vielleicht ein paar Bänke rausstellen. All das." Doch noch sind das nur kühne Träume im Autofahrerland Deutschland.
Wirkung über die Corona-Zeit hinaus?
Noch sind die neuen Radwege mit rot-weißen Warnbaken, mobilen Schildern und gelben Folien gekennzeichnet. Die können jederzeit wieder abgebaut werden, wenn die Corona-Pandemie vorbei ist. Doch kaum einer glaubt, dass die Radstreifen wieder verschwinden.
In Berlin ziehen etliche Bezirke nach und basteln just in diesen Tagen an der Umsetzung von mehr Fahrradwegen. Auch andere Großstädte, wie Stuttgart und Essen, machen es nach. Corona regelt den Verkehr - wohl auch langfristig.