Es wird eng auf Europas Intensivstationen
27. Oktober 2020In Europa steigen die Infektionszahlen rapide. Auch die Intensivstationen füllen sich wieder mit COVID-19-Patienten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat deshalb vor einer Überlastung des Gesundheitswesens vor allem in Europa und Nordamerika gewarnt. "Viele Länder auf der Nordhalbkugel sehen derzeit einen besorgniserregenden Anstieg von Fällen und Einweisungen ins Krankenhaus", sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus in Genf.
Überlastete Kliniken in Belgien
An einigen Orten sind die Kapazitätsgrenzen der Intensivstationen sogar schon erreicht. Das ergab eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur. So sind in der belgischen Provinz Lüttich Dutzende Ärzte und Pfleger in den völlig überlasteten Kliniken nach Angaben von Gewerkschaftern trotz Corona-Infektion im Dienst. "Wir müssen wählen zwischen einer schlechten und einer sehr schlechten Lösung", sagte Philippe Devos vom Verband der medizinischen Gewerkschaften. Die sehr schlechte Lösung sei, Patienten gar nicht zu behandeln.
Belgien ist in der Europäischen Union zum Land mit der höchsten COVID-19-Infektionsrate geworden. Laut Daten des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten wies das Land 1390 neue COVID-19-Infektionen pro 100.000 Einwohner in den vergangenen zwei Wochen auf.
Personalmangel in Tschechien
An zweiter Stelle befinde sich Tschechien mit 1379 Infektionen auf 100.000 Einwohner. Dort hat die Regierung drastische Maßnahmen wie eine nächtliche Ausgangssperre beschlossen, um eine innerhalb von zwei Wochen erwartete Überlastung der Krankenhäuser doch noch zu verhindern.
Das Gesundheitsministerium ordnete an, in allen Kliniken planbare Operationen zu verschieben. Große Sorgen bereitet der Personalmangel. Mehr als 13.000 Mitarbeiter im Gesundheitswesen haben sich nach Angaben der Ärztekammer selbst mit Corona infiziert. Die meisten arbeiten weiter, wenn sie keine Symptome zeigen.
Frankreich: Volle Krankenhäuser bis Mitte November?
In Frankreich gilt bereits seit dem 17. Oktober eine Ausgangssperre zwischen 21 Uhr und sechs Uhr morgens, von der zwei Drittel der französischen Bevölkerung betroffen sind. Trotzdem steigen auch dort die Infektionszahlen weiter massiv an: Mehr als die Hälfte der Betten auf französischen Intensivstationen sind mit Corona-Patienten belegt, in Paris sind es sogar rund 70 Prozent.
Die französische Regierung befürchtet Abgeordneten zufolge ohne strengere Maßnahmen eine Überfüllung der Krankenhäuser. Ministerpräsident Jean Castex habe bei einer Unterrichtung hinter verschlossenen Türen den 11. November als Datum dafür genannt, sagt der Abgeordnete Andre Chassaigne nach dem Treffen. "Die Situation ist also besonders ernst. Wenn wir die Kurve nicht abflachen können, können unsere Krankenhäuser in 15 Tagen keine Patienten mehr behandeln."
Angespannte Lage in Großbritannien und der Schweiz
Ähnlich sieht es in der Schweiz aus. Dort schätzt die COVID-Taskforce der Regierung nach einem Medienbericht, dass die Intensivbetten Mitte November voll belegt sein werden, falls die Ansteckungen weiter so zunehmen.
Auch in Großbritannien ist die Lage sehr angespannt. Die Kapazität erster Kliniken etwa im Großraum Manchester ist Medienberichten zufolge erschöpft. Das Problem: Der staatliche Gesundheitsdienst NHS ist chronisch unterfinanziert. Schon bei einer Grippewelle im Winter können viele Kliniken dem Ansturm der Patienten nicht Herr werden. Tausende Operationen wurden bereits abgesagt, die Regierung ließ mehrere provisorische Kliniken errichten.
Tausende Fachkräfte fehlen in Deutschland
In Deutschland mangelt es zwar nicht an Intensivbetten, wohl aber an Pflegepersonal. Das sagte der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, Uwe Janssens, den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Es gebe inzwischen zwar "ausreichend Kapazitäten an freien Intensivbetten und Beatmungsgeräten". Das allein helfe aber nicht weiter, "wenn wir kein Personal haben, um die Patienten zu versorgen". Hierin liege "das viel größere Problem".
Grob geschätzt fehlten bundesweit 3500 bis 4000 Fachkräfte für die Intensivpflege, sagte Janssens. Bundeskanzlerin Angela Merkel will am Mittwoch zusammen mit den Ministerpräsidenten beraten, wie die rasche Ausbreitung des Coronavirus noch eingedämmt werden kann.
mir/rb (dpa, afp, rtr)