Corona: Hunderttausende Seeleute gefangen
15. Januar 202185 Investoren haben einen offenen Brief an die Vereinten Nationen geschrieben, in dem sie die Lage der Seeleute schildern, die unter den verhängten Anti-Pandemie-Maßnahmen leiden und fordern, diese Missstände zu beheben. Über den Brief der Investoren, die ein Vermögen von mehr als zwei Billionen Dollar repräsentieren, berichtete unter anderem die Internetplattform wallstreet-online.de.
Wegen der Pandemie ist die Reisefreiheit in den meisten Ländern der Welt eingeschränkt worden. Seeleute dürfen sehr oft nicht an Land gehen, oder wenn doch, dürfen sie von den Häfen, in denen ihre Schiffe liegen, nicht zu den nächstliegenden Flughäfen fahren - sie können also nicht in ihre Heimatländer zurückkehren. Das betrifft umgekehrt auch ihre Kollegen, die sie ablösen sollen, aber aus den selben Gründen nicht an Bord kommen können.
Sie können dann kein Geld verdienen, wie auch viele festsitzende Seeleute inzwischen keine Heuer mehr bekommen. Das Problem betreffe etwa 400.000 festsitzende Seeleute, die in einzelnen Fällen bereits seit 17 Monaten an Bord festsitzen und ungefähr genau so viele, die noch zu Hause und damit de facto arbeitslos sind. Laut der Internationalen Schifffahrtskammer (ICS) könnten bald sogar eine Million Seeleute betroffen sein.
Unhaltbare Zustände
Die Verfasser schildern "erhebliche Gesundheits- und Sicherheitsrisiken" an Bord der Schiffe und auf den Kais, an denen sie festgemacht sind, wenn erschöpfte und demotivierte Seeleute unter erschwerten Bedingungen Gefahrgüter laden oder löschen müssen.
Die Investoren warnen vor möglichen Unterbrechungen weltweiter Lieferketten, die wiederum die Versorgungssicherheit in manchen Weltgegenden gefährden könnten. Sie fordern von den Vereinten Nationen auf, die Seeleute als "systemrelevant" einzustufen und es ihnen zu ermöglichen, zu ihren Schiffen oder umgekehrt von dort wieder nach Hause zu gelangen.
Die unzumutbaren Zustände auf vielen Schiffen bestätigt auch Maya Schwiegershausen-Güth von der Internationalen Transportarbeiter-Gewerkschaft ITF. In diesem Interview, das sie im Sommer dem englischen Service von DW gegeben hat, schildert sie, wie sehr die Seeleute seelisch und körperlich unter den Corona-Einschränkungen leiden. Die Gewerkschafterin ruft die Regierungen dazu auf, den betroffenen Seeleuten zu helfen.
Auch deutsche Reeder alarmiert
Das Problem wurde seit dem Ausbruch der Pandemie bereits mehrfach öffentlich angesprochen - geschehen ist allerdings nur wenig. Vor einem Monat hatte auch der Verband Deutscher Reeder (VDR) Hilfe für Seeleute in der COVID-19-Pandemie angemahnt und gedrängt, dass sie als systemrelevant eingestuft und bevorzugt geimpft würden.
VDR-Präsident Alfred Hartmann hatte am 10. Dezember gefordert, die teils rigiden Reiseeinschränkungen aufzuheben. Er zitierte dazu zwei Resolutionen der Vereinten Nationen und ihrer Arbeitsorganisation ILO (International Labour Organisation). Die UN hatten Anfang Dezember dem Personal an Bord von Seeschiffen den besonderen Status als "key worker" zuerkannt.
Hartmann beklagte, dass die rund 400.000 Seefahrer ihre Schiffe nach Ende ihres Einsatzes nicht verlassen könnten. Weil Flüge fehlten oder ihre Heimatstaaten sie nicht einreisen ließen, blieben Seeleute oft mehr als ein Jahr unfreiwillig an Bord. "Die Seeleute liefern uns trotz Corona auch in diesem Jahr die Weihnachtsgeschenke und viele Waren, mit denen Weihnachten zu einem besonderen Fest gestaltet werden kann», so Hartmann im Dezember. Es sei deshalb besonders bitter, wenn viele von ihnen wegen der Pandemie selbst an den Festtagen nicht bei ihren Familien sein könnten.
Erfolgreiche Intervention
Mitunter können Mahnungen auch erfolgreich sein, wie ein Beispiel aus dem vergangenen November in Asien und Australien zeigt: Die Internationale Transportarbeiter-Föderation ITF hatte einen Appell an die Regierungen von Australien, China und Indien gerichtet, die unhaltbaren Zustände auf einigen Kohlefrachtern zu beenden.
Laut ITF hätten unter anderen die Schiffe Jag Anand und Anastasia monatelang nicht anlegen dürfen. Auf ihnen und auf anderen Fahrzeugen täten Seeleute seit teilweise 20 Monaten ununterbrochen Dienst - gesetzlich vorgeschrieben ist eine Höchstdauer von elf Monaten. Abdulgani Y. Serang, Chef der indischen Seeleute-Gewerkschaft, sprach dabei von einer "humanitären Krise". Die Seeleute seien "mental und körperlich erschöpft". Wenn beispielsweise chinesische Offizielle australischen Kohlefrachtern weiterhin das Anlanden verbieten würden, sei das "sehr besorgniserregend".
Bereits einen Tag später konnte die ITF melden, dass wenigsten eine Behörde reagiert hatte. Das australische Amt für die Sicherheit in der Seefahrt (AMSA) teilte am 18. November mit, keine Ausnahmegenehmigungen von der "Elf-Monate-Regel" mehr zu erteilen. ITF-Koordinator Fabrizio Barcellona betonte noch einmal, es sei "nicht hinzunehmen, dass die humanitäre Krise beim Crew-Wechsel weiterhin ignoriert werde und den Seeleuten ihr Recht auf Heimfahrt und angemessene medizinische Versorgung weiterhin verweigert werde."
Beispielhaftes Programm
Während von offizieller Seite nur selten etwas unternommen wird, sind einige Organisationen von sich aus aktiv. So hat etwa die ITF in Zusammenarbeit mit einem Arbeitgeberverband und zweier Hotelketten in der philippinische Hauptstart Manila ein Programm ins Leben gerufen, um in Not geratenen Seeleuten zu helfen.
Dazu wurden in Manila 300 Räume zur Verfügung gestellt und eingerichtet, in denen Seeleute während einer 14-tägigen Quarantäne, die rund um die Uhr gesichert und überwacht wird, wohnen können. Seit dem 28. Oktober läuft das Programm, in dessen Rahmen die Seefahrer getestet werden. Bei negativem Testergebnis werden Gruppentransporte zum Flughafen organisiert - gleichzeitig werden dann ebenfalls negativ getestete Ablöse-Crews vom Flughafen zu den Schiffen gebracht.
Nach den Worten von ITF-Generalsekretär Stephen Cotton böte ein solches Programm eine Lösungsmöglichkeit in der "COVID-Welt": "Unserer Meinung nach stellt dieses System den sichersten Weg dar, dass die Ablöse-Crews schnell auf die Schiffe kommen können. Gleichzeitig können ihre Kollegen, die jetzt so lange auf den Schiffen ausgeharrt haben, ihre Rechte wahrnehmen und nach Hause zurückzukehren."
Doch Einzelinitiativen wie die in Manila können das Problem für die weltweit auf ihren Schiffen festsitzenden Seeleute nicht lösen. Daher bleibt nur zu hoffen, dass "die Regierungen", so Maya Schwiegershausen-Güth von der ITF, den Forderungen der Gewerkschaft folgen. Oder dass die Vereinten Nationen den Aufruf der 85 Investoren beherzigen und ihrerseits Druck auf die Gesetzgeber aller betroffenen Länder macht, die Not der Seeleute zu lindern.