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Corona: Freiheit auf Kosten der Kinder?

Kay-Alexander Scholz
5. September 2021

Kinder seien keine Pandemietreiber, hieß es lange. Von wegen! Die vielen Infektionen an Schulen nach den Sommerferien stellen die Corona-Politik in Deutschland auf eine neue Probe.

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Deutschland Klinikum München Schwabing.
Bild: picture-alliance/SvenSimon

Für Kinder unter zwölf Jahren gibt es in Deutschland noch keinen zugelassenen Corona-Impfstoff. Sie müssten - nachdem sich alle anderen Altersgruppen impfen lassen können - deshalb wohl besonders geschützt werden. So lange, bis es auch für sie eine Impfung gibt. Das könnte nach Meinung vieler Experten schon Anfang 2022 der Fall sein.

Die Realität sieht so aus: Nach den Sommerferien hieß es: Ab in die Schule, in volle Klassenräume, das volle Stundenpensum, volles Risiko - Schutz durch Distanz entfällt. Die Virologin Jana Schroeder findet das fragwürdig. "Wir sind doch in einer Pandemie", bewertet sie im DW-Interview die aktuelle Schulsituation. "Es ist komisch, wenn wir jetzt vorgaukeln, es gäbe keine."

Deutschland Virologin Jana Schroeder
Virologin Jana SchroederBild: Privat

Die Schulen machen das, was die Politik ihnen vorgibt. "Präsenzunterricht hat Priorität" sagte jüngst Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in einer TV-Diskussion. Er wiederholte eine Devise, die im Frühjahr die Kultusminister der Bundesländer und vor Kurzem auch die Weltgesundheitsorganisation und das UN-Kinderhilfswerk Unicef ausgaben.

Kein guter Start ins neue Schuljahr

Im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen sind die Inzidenzwerte bei Schulkindern nach den Ferien innerhalb von zwei Wochen explodiert - bis auf Werte über 700. Einfach zuhause bleiben und wieder Online-Unterricht machen? Diese Wahl haben Kinder und Eltern nicht.

"Politiker haben mantraartig gesagt, die Schulen sind sicher, jetzt ist es offensichtlich, dass sie nicht so sicher sind", ärgert sich Schroeder und findet: "Pandemie und Präsenzpflicht passen nicht so gut zusammenpassen. Was ist mit den vielen auch guten Erfahrungen mit digitalem Distanzunterricht geworden?"

Die Meinungen gehen auseinander, ob sich die Kinder in den Schulen gegenseitig angesteckt haben oder es viele aus dem Urlaub mitgebrachte Infektionen gibt. Es sei "eindeutig", findet Schroeder: "Auch an Schulen finden Infektionen statt." Ihr Kollege Christian Drosten, einer der bekanntesten Virologen Deutschlands, ist vorsichtiger. "Man wird erst in den nächsten Wochen sehen, wie sich das einspielt", sagte er im Deutschlandfunk. Drosten geht von vielen mitgebrachten Infektionen aus.

Weniger strenge Quarantäne

Auch in den Schulen gelten weiterhin verstärkte Hygiene-Vorschriften. Der Einbau von Lüftungsanlagen oder der Kauf von Luftfiltern laufen zwar an - aber eben vielerorts sehr spät. Eine andere Möglichkeit, Kinder vor einer Infektion zu schützen, sind Quarantänen. In Nordrhein-Westfalen blieben deshalb zuletzt 30.000 Kinder zuhause, weil es Infektionen in ihrer Klasse gab.

Coronavirus Luftfilter in Schulen
Solche Luftfilter sollen vor Infektionen schützen. Doch flächendeckend sind sie noch nicht zum Einsatz gekommen.Bild: Julian Stratenschulte/dpa/picture alliance

"Man schließt zwar offiziell keine Schulen, doch dann sind doch wieder viele Kinder betroffen", kritisiert der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, im DW-Interview. Die Politik hätte sich besser mit Konzepten auf das neue Schuljahr vorbereiten müssen.

Auch in der Hauptstadt stiegen die Zahlen nach dem Ferienende. Die Amtsärzte der Bezirke schlugen dem Berliner Senat ein Aufweichen der 14-tägigen Quarantäne-Regeln vor, um den Schulbetrieb zu sichern. Das Schließen der Schulen habe, hieß es in ihrem Papier, zu viele seelische und soziale Schäden angerichtet. In der Tat war dies auch das Credo vieler Studien vergangener Monate zum Schul-Lockdown.

Statt ganze Klassen nach Hause zu schicken, solle nur das infizierte Kind isoliert werden, forderten die Berliner Ärzte. Eine höhere Zahl von Infektionen müsse in Kauf genommen werden. Ungeimpfte Kinder würden sich angesichts der ansteckenden Delta-Variante "zwingend infizieren".

Auch andere Mediziner und Wissenschaftler forderten in einem offenen Brief eine "angemessene Balance zwischen der Zahl verhinderbarer Erkrankungen und der durch Quarantäne ausgefallenen Unterrichtstage". Deshalb müssten die Quarantäne-Bestimmungen neu gedacht, nämlich entschärft werden.

"Es lohnt sich, die Krankheit nicht zu bekommen"

Der Vorschlag der Berliner Amtsärzte konnte sich so nicht durchsetzen. Doch er förderte eine breite Diskussion.

Bildung ist in Deutschland Ländersache - und beim Infektionsschutz haben sogar die Kommunen das letzte Wort. Die Meinungen dazu gehen zum Teil weit auseinander. "Der Gesundheitsschutz hängt gerade davon ab, in welchem Bundesland man lebt", kritisiert Schroeder.

Schulbeginn: Kinder gehen eine Treppe hoch, teils mit Masken
Wie viele Kinder werden sich in der Schule mit Covid-19 anstecken?Bild: Jens Büttner/dpa-Zentralbild/dpa/picture alliance

Baden-Württemberg hat nun die Quarantäne für Kontaktpersonen in der Schule ganz abgeschafft, um, wie es hieß, Einschränkungen des Schulbetriebs zu vermeiden. Stattdessen soll unter anderem täglich getestet werden. Ähnliches hat Sachsen beschlossen. Andere Bundesländer melden, auch sie wollten mehr testen. In Bremen und Brandenburg entfällt die Maskenpflicht im Unterricht. In Hessen können sich Kinder nach zwei Tagen Quarantäne freitesten, also in die Schule zurückkehren, wenn der Test negativ ausfällt.

Noch hat die Schule gar nicht wieder in allen Bundesländern angefangen. Doch die Virologin Schroeder warnt: Studien zeigten, dass ein bis zwei Prozent der infizierten Kinder ins Krankenhaus müssten. "Das sind bei neun Millionen Kindern unter zwölf Jahren in Deutschland 90.000 bis 180.000 Fälle." Dazu komme die große Unbekannte Long-Covid und andere Spätfolgen. "Es lohnt sich, die Krankheit nicht zu bekommen, wir wissen einfach noch zu wenig." Die Lage in den USA sei ein warnendes Beispiel. Dort sei die Zahl der Krankenhaus-Einweisungen von Corona-Kindern so hoch wie nie zuvor.

"Hedonismus der Erwachsenen auf Kosten der Kinder"

Die Diskussion wird in Deutschland inzwischen unter dem Begriff "Durchseuchung" geführt. Es gibt viele Kritiker.

Auch Drosten sagt, "das kann man auf keinen Fall machen". "Zynisch" findet es Hilgers, darauf zu hoffen, dass sich die Kinder durchinfizieren würden. "Denn so werden auch Kinder schwer erkranken."

Hilgers kämpft mit dem Kinderschutzbund seit Jahren um eine stärkere Wahrnehmung von Kindern - auch jetzt. "Wir Erwachsenen erlauben uns wieder viele angenehme 'Freiheiten'. Wir verreisen, gehen ins Stadion und feiern. Aber wer darunter leidet, sind die Kinder." Die Diskussion um die Rückgabe von Freiheitsrechten habe seiner Meinung nach eher mit "Hedonismus statt mit Liberalismus" zu tun.

"Ich glaube nicht, dass wir die Welle laufen lassen können auf Kosten derjenigen, die sich anderthalb Jahr zurückgenommen und die Alten geschützt haben", sagt Schroeder. Natürlich sei es richtig, in einer Pandemie irgendwann zu sagen, "jetzt ist aber mal gut". "Allerdings nicht, wenn man keinen Bock mehr auf die Pandemie hat, sondern wenn auch die Kinder ein Impfangebot bekommen haben."