Corona: Die zweite Welle rollt an
4. August 2020Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg, Berlin, Brandenburg, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen: Bis Mitte nächster Woche starten die ersten sechs der 16 deutschen Bundesländer nacheinander ins neue Schuljahr. Nach den Schulschließungen im vergangenen März, monatelangem Fernunterricht zuhause und nur punktuellem Präsenz-Unterricht vor den Sommerferien ist eine Rückkehr zum Normalbetrieb geplant. Kann das gutgehen?
"Wir alle haben eine Sehnsucht nach Normalität. Aber wir sind eben in einem Zustand, der nicht normal ist", warnt die Vorsitzende des Ärzteverbands Marburger Bund, Susanne Johna, die Deutschland angesichts der wieder ansteigenden Infektionszahlen bereits in der für Pandemien typischen zweiten Welle sieht. "Wir befinden uns schon in einer zweiten, flachen Anstiegswelle", so Johna in einem Interview der Zeitung "Augsburger Allgemeine".
Die Disziplin lässt nach
Eine Infektionswelle, die nur durch Abstands- und Hygieneregeln eingedämmt werden könne, solange es keine Arzneimittel zur Behandlung von Covid-19 gebe, mahnt die Ärztin. Doch dafür braucht es auch weiterhin Disziplin und die lässt bei immer mehr Bürgern spürbar nach. Wie werden nun die Schüler mit den Verhaltensregeln umgehen, die im neuen Schuljahr gelten?
Veränderte Wegeführung ohne Gegenverkehr im Schulgebäude, getrennte Bereiche für die einzelnen Klassen auf den Pausenhöfen und zeitlich versetzte Stundenpläne: So soll erreicht werden, dass sich möglichst wenige Schüler direkt begegnen. "Es macht keinen Sinn, wenn ihr euch morgens in der Bahn erstmal kuschelnd begrüßt mit Küsschen hier und Küsschen da und dann kommt ihr in die Schule und haltet Abstand", ermahnte Markus Riemer, Direktor eines Rostocker Gymnasiums, seine Schüler zum Schuljahresstart in Mecklenburg-Vorpommern.
Schulter an Schulter im Klassenzimmer
Das Abstandsgebot gilt allerdings nur außerhalb der Unterrichtsräume, denn die sollen wieder voll belegt werden. Nur so ist eine Rückkehr zum regulären Unterricht möglich. Für alles andere fehlen Lehrer. Das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen verpflichtet Schüler und Lehrer daher zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes auch in den Klassenzimmern - ab Klasse 5. In anderen Bundesländern hält man das für übertrieben und will zunächst lediglich eine Maskenpflicht außerhalb des Unterrichts verfügen.
Dabei ist schon jetzt absehbar, dass auch infizierte Schüler in die Klassen zurückkehren werden. Erste Auswertungen der seit kurzem angebotenen Corona-Tests für Urlaubsrückkehrer aus Risikogebieten im Ausland haben ergeben, dass durchschnittlich 2,5 Prozent der Getesteten das Virus mitbringen. Allerdings nehmen nur rund 40 Prozent der Heimkehrer das freiwillige Testangebot überhaupt wahr. Die tatsächliche Quote könnte also sowohl niedriger als auch höher sein.
Wann kommt die Testpflicht?
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn arbeitet daher an einem Gesetz für verpflichtende Tests. "Wir haben erste Entwürfe, wollen das aber gut mit den Ländern abstimmen, denn dort muss das an den Flughäfen und Bahnhöfen umgesetzt werden. Bis dahin gilt aber zwei Wochen Quarantäne für Einreisende aus Risikogebieten."
Doch daran halten sich immer weniger Betroffene. Zumal ihnen ein Unterlaufen der Quarantänepflicht teilweise leicht gemacht wird. Wer beispielsweise aus den USA nach Berlin reist, dem wird am Flughafen lediglich ein Blatt Papier in die Hand gedrückt, auf dem steht, man habe sich nach der Ankunft beim örtlichen Gesundheitsamt zu melden. Einen Datenabgleich zwischen den Einreisebehörden und den Ämtern gibt es nicht. Angehörige der Reiserückkehrer dürfen sich, auch wenn sie im selben Haushalt leben, in der Quarantänezeit ohnehin weiter frei bewegen.
Es wird mehr Infizierte geben
Die Münchener Virologin Ulrike Protzer warnt zudem davor, dass ein Test auch negativ ausfallen könne, weil sich der Reiserückkehrer noch in der Inkubationszeit befinde und erst nach drei bis vier Tagen positiv werde. "Das kann ich nur ausschließen, wenn ich noch einen zweiten Test innerhalb von vier bis fünf Tagen mache und bis dahin, also bis ich auch zwei negative Tests habe, Kontakte auch meide", sagte sie in einem ARD-Interview.
Den steigenden Infektionszahlen wollen die Behörden und die Gesundheitsämter begegnen, indem sie punktuelle oder regionale Virus-Ausbrüche möglichst schnell erkennen und eindämmen. Die Krankenhäuser seien auf eine steigende Zahl von an COVID-19 Erkrankten eingerichtet, meint die Vorsitzende des Marburger Bunds, Susanne Johna. Da sich die zweite Welle langsamer aufbaue, sollen Intensivbetten diesmal aber nicht bundesweit pauschal zur Verfügung stehen, sondern zeitlich gestaffelt in mehreren Stufen. "Bis man dann in der höchsten Alarm- und Ausbaustufe alle für COVID-19-Patienten verfügbaren Intensivkapazitäten ausschöpft", so die Ärztin.
Kein neuer Lockdown!
Gleichzeitig will die Politik aber das alltägliche Leben so weit wie möglich erhalten. Was unbedingt vermieden werden soll, ist eine erneute flächendeckende Schließung von Unternehmen, Geschäften, aber auch der Schulen. "Unsere feste politische Überzeugung ist, dass so etwas wie im Frühjahr nicht mehr passieren darf", betont die Bildungsministerin von Schleswig-Holstein Karin Prien in einem Interview des Deutschlandfunks und spricht damit auch für ihre Kollegen in den übrigen Bundesländern, die im neuen Schuljahr möglichst viel Regelbetrieb mit Präsenzunterricht anbieten wollen.
Die Politik hofft dabei auch auf die Hilfe der Technik. Die Corona-Warn-App, die verfolgt, ob ihr Nutzer in Kontakt mit einer infizierten Person geraten ist und daraus ein Ansteckungsrisiko entstehen kann, ist inzwischen von 16,5 Millionen Bürgern heruntergeladen worden. Helfen soll auch eine vom Robert-Koch-Institut entwickelte App, deren Nutzer ihre Pulsfrequenz, Schrittzahlen und ähnliche Daten messen lassen und der Wissenschaft zur Verfügung stellen.
Deutsche Fieberkurve
Das Projekt ist inzwischen so weit gediehen, dass in Kürze ein Monitoring-System zum Identifizieren von Infektionsclustern online gehen soll. "Vor zwei Wochen etwa haben wir die ersten Analysen quantitativ durchführen können und das hat sich sehr gut mit dem gedeckt, was zum Beispiel bei der Vorhersage des Grippe-Geschehens ermittelt wird", sagt Dirk Brockmann, Epidemiologe an der Berliner Humboldt-Universität und am Robert-Koch-Institut gegenüber der DW. Der Wissenschaftler ist zuversichtlich, dass die App helfen kann, das Corona-Infektionsgeschehen noch besser vorhersagen zu können. "Wir können jetzt diesen Prozess automatisieren, sodass wir eigentlich täglich diese Fieberkurve für Deutschland berechnen können."