Spahn massiv unter Druck wegen AstraZeneca
16. März 2021Sie hatte sich den Montag schon rot in ihrem Terminkalender angestrichen, es sprach alles für einen perfekten Tag. Erst der lang ersehnte Friseurbesuch und dann, als Krönung, der Termin im Impfzentrum. Doch gerade, als Petra Müller [Name von der Redaktion geändert] für ihren Haarschnitt zahlen will, erreicht sie eine E-Mail des Gesundheitsamtes: Impftermin wegen des Stopps der Impfungen mit AstraZeneca abgesagt.
"Es war bei mir tatsächlich so, dass ich schon lange nicht mehr so eine Vorfreude hatte wie auf diese Impfung. Das war emotional schon kurz hart", sagt die Pfarrerin einen Tag später der DW.
Werden sich die Menschen jetzt noch mit AstraZeneca impfen lassen?
Die kurzfristige Absage hatte sie nicht vollkommen unvorbereitet getroffen, über die Medien hatte sie schon zuvor von der Diskussion um den Stopp des Impfstoffs erfahren. Im Nachhinein wäre es Petra Müller andersherum wesentlich lieber gewesen: geimpft, aber noch mit längeren Haaren, weil sie häufig in Kontakt mit älteren und jüngeren Menschen steht. Als Pfarrerin und Lehrerin für Religion an einer dritten und vierten Klasse einer Grundschule.
"Manchmal bin ich morgens in der Schule und direkt danach bei einer Beerdigung. Natürlich achten wir dort auf Abstand und die Masken, aber ich finde es schon sehr wichtig, für mich und vor allem für die älteren Personen, einen Schutz zu haben."
Wird sie sich trotz der Diskussionen um die Nebenwirkungen von AstraZeneca sofort impfen lassen, wenn sie jetzt wieder einen Termin bekommt? "Natürlich", sagt Petra Müller ohne zu zögern. Aber sie befürchtet, damit zu einer Minderheit zu gehören. "Ich glaube, dass viele Menschen sich jetzt nicht mehr mit diesem Vakzin impfen lassen werden, wenn es wieder zugelassen wird."
Hektik, dann Ruhe im Impfzentrum
Überall in Deutschland war am Montagnachmittag angesichts des Impfstopps für AstraZeneca große Hektik ausgebrochen. Auch im World Conference Center in Bonn, das zum Impfzentrum in der alten Hauptstadt umfunktioniert worden war. 200 Personen wurden kurzfristig mit dem Impfstoff von BioNTech/Pfizer geimpft, andere nicht mehr ins Impfzentrum hineingelassen, 5500 Termine bis Ende kommender Woche storniert.
Vor allem für die geplanten Impfungen in den Bonner Arztpraxen hat der Impfstopp große Auswirkungen, denn 40.000 Menschen mit relevanten Vorerkrankungen sollten dort ab Ende März mit AstraZeneca geimpft werden. "Das fällt jetzt weg", sagt Jochen Stein, Leiter der Bonner Berufsfeuerwehr. Laut Stein lagern 1300 Impfdosen von AstraZeneca in Bonn. Immerhin: bis Mai seien diese haltbar.
"Über-80-Jährige, die noch kein Angebot bekommen haben"
500 Kilometer nordöstlich, in Berlin, kann Niema Movassat nicht länger an sich halten und setzt einen Tweet ab. Gerade hat der Abgeordnete der Linken erfahren, dass der demente Großvater seiner Frau in seinem Altersheim in Sachsen-Anhalt nicht mit AstraZeneca geimpft werden wird. Movassat schickt bei Twitter noch eine Botschaft an den Gesundheitsminister hinterher – den Mann, den er für das ganze Chaos verantwortlich macht.
"Ein bisschen erinnert die deutsche Bekämpfung der Corona-Krise an das Orchester auf der Titanic. Die Musik läuft weiter, während das Schiff absäuft", so Movassat, "und Jens Spahn stellt sich hin und sagt, in jeder Familie gebe es jemanden, der schon geimpft worden sei. Das mag zwar statistisch stimmen, entspricht aber nicht der Realität vieler Menschen. Es gibt immer noch viele Über-80-Jährige, die noch kein Angebot bekommen haben."
Warum keine Entscheidung über AstraZeneca im Parlament?
Der Zeitverlust für Hochrisikopatienten wie den Großvaters seiner Frau sind für den Linken-Abgeordneten das eine, genauso schwer wiege aber der immense Vertrauensverlust in die Politik, das Schwinden der Akzeptanz. "Es kann doch nicht sein, dass so viele Länder auf der Welt das besser hinbekommen als wir!"
Niema Movassat hätte, statt die Impfung mit AstraZeneca zu stoppen, kurzfristig eine Sondersitzung des Gesundheitsausschusses des Bundestages einberufen, die Entscheidung also in die Hände des Parlaments gelegt. Jens Spahn jedenfalls, so sieht es Movassat, sei spätestens jetzt nicht mehr tragbar. "Er wurstelt sich durch, aber politisch ist Spahn am Ende. Ich wundere mich, dass er überhaupt noch da ist."
Noch am Morgen des Montags hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) den Impfstoff verteidigt, auch, nachdem mehrere europäische Länder das Impfen mit AstraZeneca bereits gestoppt hatten. Jetzt bezeichnete Spahn das Aussetzen als "reine Vorsichtsmaßnahme", die aber, so die Einschätzung von Experten, den Fortgang des Impfens in Deutschland um einen Monat verzögern könnte. Und das genau zu dem Zeitpunkt, an dem die tägliche Neuinfektionen in Deutschland wieder rasant steigen.
Langsames Impfen, zu viel versprochen bei den Schnelltests
Für Minister Spahn ist die Aussetzung eine weitere Hiobsbotschaft. Vor allem ihm wird im politischen Berlin der schleppende Impfstart zur Last gelegt, Spahn selbst verweist immer wieder auf die Verantwortung der Länder bei der Umsetzung. Zuletzt hatte Spahn auch die rasche Bereitstellung von Schnelltests angekündigt und musste seinen Plan, Anfang März mit der Auslieferung zu beginnen, auf Anweisung des Kanzleramtes zurücknehmen.
Jetzt steht Spahn also erneut in der Kritik. So sagte die Expertin für Infektionsschutz der Grünen, Kordula Schulz-Asche: "Die Nachricht von der Aussetzung der Impfung mit AstraZeneca wird die ohnehin schon große Verunsicherung verstärken. Gerade weil die Sicherheit von Impfstoffen so wichtig ist, kann ein Gesundheitsminister eine Entscheidung solcher Tragweite nicht einfach so nebenbei verkünden und damit die Impf-Zentren überrumpeln. Die Impf-Kampagne braucht Vertrauen - das hat Jens Spahn heute ein weiteres Mal beschädigt." Und auch die Äußerungen von CSU-Chef Markus Söder, dem Ministerpräsidenten in Bayern, sind für Spahn keine große Hilfe. Söder sagte im ZDF-Fernsehen, er glaube nicht, dass der Impfstoff lange ausgesetzt bleibe, er selbst würde sich sofort mit AstraZeneca impfen lassen.
Die Aussetzung des Impfens mit AstraZeneca trifft die Bundesregierung und die Verantwortlichen in den Ländern zur Unzeit. Nach dem mehr als schleppenden Start der Impf-Kampagne in Deutschland hatten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder gehofft, vor allem mit dem Serum des britisch-schwedischen Herstellers endlich Schwung in ihre Pandemie-Politik zu bekommen. Ab Mitte April sollten eigentlich die Hausärzte in ihren Praxen großflächig mit dem Impfen beginnen, vor allem mit dem Produkt von AstraZeneca, das anders als der Impfstoff des deutsch-amerikanischen Herstellers BionTech/Pfizer lange im Kühlschrank gelagert werden kann.
Impfgipfel: abgesagt
Am Mittwoch dieser Woche wollten Merkel und die Länderchefs auf einem eigens anberaumten Gipfel im Kanzleramt Details festlegen, aber der Termin wurde abgesagt, nachdem das zuständige Paul-Ehrlich-Institut empfohlen hatte, das Impfen mit AstraZeneca erst einmal zu stoppen. Offenbar soll der Gipfel nun am Freitag stattfinden. Der Präsident des Instituts, Klaus Cichutek, sagte dazu im ARD-Fernsehen: "Ich glaube, die Bürgerinnen und Bürger wollen sich darauf verlassen, dass die Impfstoffe, die wir anbieten, sicher sind und wirksam sind." Zu Auswirkungen auf die Impf-Kampagne sagte er: "Wenn es ein bisschen länger dauert, ist das okay."
Das sehen aber viele Experten ganz anders: Der Pandemie-Beauftragte des Klinikums "Rechts der Isar" in München, Christoph Spinner, sagte, Sicherheit stehe zwar an oberster Stelle, das Aussetzen könne man aber zumindest hinterfragen. "Die Ereignisse sind sehr selten, und wir impfen derzeit prioritär Menschen mit Vorerkrankungen." Diese Patienten hätten teils von vornherein ein gesteigertes Thromboembolie-Risiko. Wie lange der Impfstoff jetzt erst einmal nicht zu Verfügung steht, ist offen. Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA will sich am Donnerstag erneut mit der Sache befassen.