Weizen wird immer wertvoller
22. März 2022Die gute Nachricht zuerst: Es wird weltweit genug Weizen für die Versorgung mit Nahrungsmitteln angebaut. Die schlechte: Der Weizen wird immer teurer und wächst nicht dort, wo er gebraucht wird.
Nach dem russischen Exportstopp für Getreide sind die Preise erneut in die Höhe geschossen und die Angst vor Hungersnöten und Hungerrevolten geht um. Moskau hatte in der vergangenen Woche angekündigt, die Ausfuhr von Weizen, Gerste und Roggen vorübergehend bis Ende Juni zu stoppen.
"Getreide als Waffe"
"Mit dem von Russland angekündigten teilweisen Exportstopp für Weizen setzt Putin das Getreide als Waffe ein und bedroht die Ernährungslage vor allem armer Länder des Südens", erklärt Martin Häusling, agrarpolitischer Sprecher der Grünen im EU-Parlament. Russland stelle die Welt vor eine neue, bislang völlig unbekannte Herausforderung.
Nach Angaben des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle beträgt der Anteil der Weizenproduktion der Ukraine am Weltmarkt 11,5 Prozent, der Anteil Russlands liegt bei 16,8 Prozent. Beim Mais stammen 17 Prozent der weltweiten Exporte aus der Ukraine.
Die Abhängigkeit von Getreide aus Russland und der Ukraine trifft folglich nicht nur viele afrikanische Länder oder den Nahen Osten. Sie umfasst auch wichtige Industrie- und Schwellenländer wie die Türkei, Indien und China.
Hauptabnehmer Türkei und China
Nach dem am 16. März veröffentlichten Lagebericht "The Impact on trade and development of the war in Ukraine" (Die Auswirkungen des Ukrainekrieges auf Handel und Entwicklung) der UN-Handels- und Entwicklungsorganisation Unctad liegt der russisch-ukrainische Anteil der gesamten Importquote von Weizen, Mais, Gerste, Raps, Saatgut und Sonnenblumenöl in der Türkei bei 25,9 Prozent, in China bei 23 Prozent und in Indien bei 13 Prozent.
Die Unctad-Studie zeichnet die verhängnisvolle Verkettung mehrerer Faktoren nach, die sich aktuell zu einem bedrohlichen Szenarium zusammenfügen: Höhere Preise für Getreide, Energie, Düngemittel und Transport, leere Getreidesilos und die Coronakrise gefährden die Versorgung mit Nahrungsmitteln von Millionen von Menschen und treiben Hunger und Inflation an.
Selbstversorger EU
Während in der EU die Getreidesilos gut gefüllt sind, trifft die Nahrungsmittelkrise besonders die Länder, die bereits zuvor schon mit wirtschaftlichen Problemen belastet waren. "Es gibt vielerorts einfach keine Reserven mehr", erklärt Simone Pott, Sprecherin der Deutschen Welthungerhilfe, gegenüber der Deutschen Welle. "Wenn jetzt die Preise noch einmal steigen, gibt es nichts, womit die Menschen das noch kompensieren können."
Laut der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft FAO haben Agrar-Rohstoffe bereits im ersten Jahr der Corona-Pandemie 2020 auf dem Weltmarkt insgesamt 31 Prozent mehr gekostet als ein Jahr zuvor. Ein Grund dafür waren zum Beispiel die Kosten der Lagerhaltung in Corona-Zeiten.
Für die Bevölkerung in vielen Ländern Afrikas ist diese Entwicklung besonders verhängnisvoll: "Die Chancen, die Importe aus Russland und der Ukraine kurzfristig durch den innerafrikanischen Handel zu ersetzen, sind sehr gering, da das Angebot klein, die Verkehrsinfrastruktur schlecht und die Lagerkapazitäten nicht ausreichend sind", heißt es im Unctad-Bericht.
Spritpreise verteuern Nahrungsmittel
Für Simone Pott wäre die Lage selbst kritisch, wenn in Ländern wie Somalia, Benin, der DR Kongo, Tansania und dem Senegal mehr Weizen vor Ort angebaut würde. "Wenn der Sprit und Energiepreise teurer werden, wird es auch teurer, Produkte auf den Markt zu bringen oder sie zu kühlen. Deswegen sind die Preisschwankungen in diesen Ländern extrem bedeutend."
Aus den Abfragen bei den Projektpartnern der Welthungerhilfe geht hervor, wie stark sich die Krise bereits in vielen Ländern auswirkt. So stiegen in Bangladesch die Preise für Pflanzenöl um 42 Prozent und für Weizen um 39 Prozent. In Simbabwe, der ehemaligen Kornkammer Afrikas, ist der Sprit-Preis von 1,30 auf 1,75 USD gestiegen.
In Westafrika versuchen mittlerweile einige Länder, politisch gegenzusteuern. So haben Senegal und die Elfenbeinküste für einen Zeitraum von drei Monaten eine Preisobergrenze für raffiniertes Palmöl, Zucker, Milch, Reis, Tomatenmark, Rindfleisch und Nudeln verhängt. Und im Senegal subventioniert die Regierung die lokalen Reisbauern zusätzlich mit umgerechnet 76,2 Millionen Euro.
"EU muss einspringen"
"Es werden immer noch genügend Nahrungsmittel produziert, um die ganze Welt zu ernähren. Aber sie werden eben nicht dort produziert, wo die Menschen sie dringend brauchen", erklärt Welthungerhilfe-Sprecherin Pott.
Die Nahrungsmittelkrise zeige, dass es in den Ländern, die stark von russischen und ukrainischen Importen abhängig sind, versäumt worden sei, in die eigene Produktion und ländliche Entwicklung zu investieren. Pott: "Ich würde deshalb nicht von Nahrungsmittelknappheit sprechen, sondern von einer Nahrungsmittelkrise."
EU-Parlamentarier Häusling fordert, dass die EU einspringt und den Anteil der Getreidelieferungen an die armen Staaten übernimmt, der aus der Ukraine ausfällt. "Die EU hat in vielen Bereichen der Agrarproduktion einen Selbstversorgungsgrad von über 100 Prozent und ist Nettoexporteur", erklärt er. "Bei uns werden die Brötchen ein bisschen teurer, aber woanders werden Menschen ihr Leben verlieren, weil Nahrungsmittel fehlen werden."