Mediziner fordern Alternativen zur Inzidenz
22. Februar 2021Berlins Amtsärzte fordern einem Medienbericht zufolge einhellig, Lockerungen nicht mehr an generelle Inzidenzwerte zu knüpfen. Es sei "nicht zielführend, Eindämmungsmaßnahmen an Inzidenzen von 20/35/50" zu koppeln, heißt es in der Berliner Zeitung "Tagesspiegel", die sich auf eine Stellungnahme aller zwölf Amtsärzte in der Hauptstadt beruft. Demnach schlagen die Mediziner "intensive Maßnahmen der Infektionsprävention" für Alte und Kranke vor, um gleichzeitig die Maßnahmen für andere Gruppen wie Schulkinder abmildern zu können. Das Papier sei am Wochenende als Stellungnahme an die Senatskanzlei geschickt worden. Der gebräuchliche Sieben-Tage-Inzidenzwert gibt die Zahl der Neuinfektionen in den vergangenen sieben Tagen an.
"Diese Inzidenzen bilden nicht das wirkliche Infektionsgeschehen ab", schreiben die Amtsärzte laut Bericht. Die Inzidenzen seien von Testkapazitäten und dem Testwillen der Menschen abhängig. "Dadurch kommt es zu Schwankungen, die nicht die infektiologische Lage widerspiegeln." Es sei ein Unterschied, ob Inzidenzen durch Cluster-Ausbrüche oder breite Durchseuchung zustande kämen und auch, welche Altersgruppen infiziert seien.
Notwendig sei eine nach Altersgruppen ausgerichtete Inzidenzanalyse als "Frühwarnsystem". Aus dem Kreis der Amtsärzte hieß es laut "Tagesspiegel", es sei ein "großer Unterschied", ob eine Sieben-Tage-Inzidenz von 50 herrsche, alle Infizierten symptomfreie Kinder und Menschen über 80 schon durchgeimpft seien oder ob bei einer Inzidenz von 50 vor allem Risikogruppen betroffen seien. Danach müsse man die politischen Maßnahmen ausrichten.
Gerlach setzt auf Impfungen
Auch der Chef des Sachverständigenrats im Gesundheitswesen, Ferdinand Gerlach, kritisierte die einseitige Orientierung an den Inzidenzen, weil sie auch von der Testfrequenz abhingen. Es sei besser, "repräsentative Kohorten" zu beobachten und zu testen, sagte er dem Nachrichtenportal "ThePioneer". "Wenn wir wissen, wie groß das Infektionsrisiko am Arbeitsplatz, in der Schule, beim Einkaufen, im Kino, im Museum oder im öffentlichen Verkehr ist, können wir gezielter reagieren und müssen nicht eine ganze Volkswirtschaft herunterfahren", erklärte der Mediziner, der auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn berät.
Montgomery warnt eindringlich
Angesichts der wieder gestiegenen Corona-Infektionszahlen in Deutschland warnte dagegen Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery vor weiteren Lockerungen der Restriktionen. Wer in Zeiten steigender Reproduktionswerte des Coronavirus über Lockerungen spreche, handele "absolut unverantwortlich", sagte Montgomery den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Bei jeder Lockerung werde es einen "deutlichen Anstieg der Zahlen" geben.
Sowohl die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz als auch der Reproduktionswert sind in Deutschland zuletzt wieder gestiegen. Bei der Sieben-Tage-Inzidenz handelt es sich um die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern innerhalb dieses Zeitraums. Der R-Wert beschreibt, wie viele andere Menschen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Wenn der R-Wert auf einen Wert von mehr als 1,0 steigt, was zuletzt wieder der Fall war, nimmt die Zahl der täglichen Neuinfektionen zu.
Montgomery erläuterte, bei einem R-Wert klar über 1,0 drohe bei der Ausbreitung des Virus wieder "exponentielles Wachstum": "Und genau das ist jetzt der Fall." Das Virus habe mit seinen Mutationen eine neue Stufe erreicht. Es sei nicht nur ansteckender, sondern führe wahrscheinlich auch zu schwereren Krankheitsverläufen.
Als Reaktion auf die Entwicklung forderte der Präsident des Weltärztebundes eine Beschleunigung der Impfungen. Impfstoffdosen, die in der ersten Prioritätsgruppe nicht abgerufen würden, müssten jetzt sofort in der zweiten Gruppe zum Einsatz kommen. "Wir dürfen uns hier nicht sklavisch an die Impfreihenfolge halten", mahnte der Mediziner.
Merkel will drei Paketlösungen
Bundeskanzlerin Angela Merkel will Insidern zufolge Öffnungsschritte bei Corona-Beschränkungen mit verstärkten Tests verbinden. Merkel schlug im CDU-Präsidium nach Teilnehmerangaben drei "Paketlösungen" vor. Dies betreffe erstens persönliche Kontakte, zweitens Regelungen für Schulen und Berufsschulen sowie drittens die Bereiche Sportgruppen, Restaurants und Kultur. Wichtig sei, dass weitere Öffnungsschritte angesichts der sich ausbreitenden Virusvarianten nicht zu erneuten Rückschlägen bei den Infektionszahlen führen dürften. Ab Dienstag werde eine Arbeitsgruppe mit Kanzleramtschef Helge Braun und den Chefs der Staatskanzleien zu dem Thema tagen. Die Gruppe soll der nächsten Bund-Länder-Sitzung am 3. März ein Konzept vorschlagen.
Wieder mehr Neuinfektionen
Die Gesundheitsämter in Deutschland meldeten dem Robert Koch-Institut (RKI) am Montag 4369 Corona-Neuinfektionen binnen eines Tages. Zudem wurden innerhalb von 24 Stunden 62 weitere Todesfälle verzeichnet. Das geht aus Zahlen des RKI vom Montag hervor. Vor genau einer Woche hatte das RKI binnen eines Tages 4426 Neuinfektionen und 116 neue Todesfälle verzeichnet. Am Montag sind die vom RKI gemeldeten Fallzahlen meist niedriger als an anderen Werktagen, unter anderem weil am Wochenende weniger getestet wird.
Die Zahl der binnen sieben Tagen gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner (Sieben-Tage-Inzidenz) lag am Montagmorgen bundesweit bei 61,0 - und damit etwas höher als am Vortag (60,2). Vor vier Wochen, am 25. Januar, hatte die Inzidenz noch bei 111,2 gelegen. Ihr bisheriger Höchststand war am 22. Dezember mit 197,6 erreicht worden.
Das RKI zählte seit Beginn der Pandemie 2.390.928 nachgewiesene Infektionen mit SARS-CoV-2 in Deutschland. Die Zahl der Genesenen gab das RKI mit etwa 2.198.000 an. Die Gesamtzahl der Menschen, die an oder unter Beteiligung einer nachgewiesenen Infektion gestorben sind, stieg auf 67.903.
Viele Schulen öffnen wieder
Nach rund zweimonatiger Schließung und Notbetreuung öffnen an diesem Montag in weiteren zehn Bundesländern wieder Kindertagesstätten und Grundschulen. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek unterstützt das. "Es ist gut, dass viele Schulen in Deutschland jetzt schrittweise wieder mit dem Präsenzunterricht beginnen", sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. Präsenzunterricht sei durch nichts zu ersetzen. "Kinder, besonders jüngere, brauchen einander."
Angesichts steigender Infektionszahlen rief die CDU-Politikerin aber dazu auf, "alle zur Verfügung stehenden Mittel zur Prävention einer Virenübertragung zu ergreifen", um den Schulbetrieb auch in den nächsten Wochen aufrecht erhalten zu können. Die jüngste Entwicklung der Infektionszahlen verdiene höchste Aufmerksamkeit, sagte Karliczek und verwies auch auf die befürchtete Ausbreitung neuer Virusvarianten. "Das muss auch beim Schulbetrieb bedacht werden. Ich bin mir aber sicher, dass die Länder dies bei ihren Öffnungsentscheidungen berücksichtigen."
kle/rb (dpa, afp, rtr)