Corona-Modellstadt Tübingen – eine Idee für Deutschland?
20. März 2021Das Licht am Ende des langen, dunklen Tunnels wird im Tübinger Zimmertheater ziemlich genau am Dienstagabend um 18 Uhr angeknipst. Da betreten, nach vier Monaten Pause, die ersten Zuschauer wieder das Foyer. Mit einem Strahlen im Gesicht zeigen sie ihre zwei Eintrittskarten vor: das Ticket der Veranstaltung und den negativen Corona-Test.
24 Stunden vorher war die Entscheidung gefallen, dass die 90.000-Einwohner-Stadt drei Wochen lang zum Corona-Modell wird. Der Name des Projekts: "Öffnen mit Sicherheit", genauer: mit Zehntausenden Tests. Für Dieter und Peer Ripberger, die Intendanten des Zimmertheaters, heißt das, dass sie als erste Bühne in ganz Deutschland, noch vor Berlin, wieder vor Publikum spielen dürfen.
"Seit Tagen sind wir hier voller Euphorie, es ist ein schönes Gefühl nach vier Monaten Kurzarbeit. In den Schlangen vor den Testzentren wurde uns gesagt: 'Toll, dass Ihr wieder dürft'", berichten sie, "wir sind uns aber gleichzeitig der Verantwortung bewusst, die wir als Teil dieses Modellprojekts tragen".
Theatermacher mit Hoffnungsschimmer
Das bedeutet: Theater und Kinos sind in Tübingen zunächst einmal bis zum 4. April wieder geöffnet. Sie dürfen aber nur Zuschauer mit einem sogenannten Tagesticket hereinlassen, das einen negativen Corona-Test vom selben Tag dokumentiert. Abstandsregeln müssen weiter eingehalten werden, Pflicht bleibt auch das Tragen einer Maske.
Laut der Corona-Beschlüsse dürfen Theater- und Konzerthäuser deutschlandweit eigentlich erst wieder am 22. März öffnen, doch angesichts der steigenden Infektionszahlen ist auch dieser Termin fraglich. Dieter Ripberger musste deswegen nicht lange überlegen, sein Team brachte die Bühnen auf Vordermann und organisierte in Windeseile 20 Vorstellungen in den nächsten Tagen.
"Alle haben gefordert, die Theater müssten schnell wieder aufmachen. Wenn wir jetzt dürfen und es nicht machen, dann fallen wir der ganzen Branche in den Rücken", sagt er, "und auch wir Mitarbeiter testen uns statt zweimal die Woche jeden Tag, weil für die Zukunft der Theater hier bei uns einfach nichts passieren darf."
Die Ideengeberin setzt sich auch mal über Regeln hinweg
Dass das Zimmertheater überhaupt öffnen kann, haben Dieter und Peer Ripberger vor allem einer engagierten Medizinerin zu verdanken, die einen Katzensprung entfernt ihre Praxis hat. Noch vor einem Jahr kannten Lisa Federle noch nicht mal alle Einheimischen, heute ist sie als Gesicht des Tübinger Weges, der konsequent auf Selbsttests setzt, über die Stadtgrenzen in ganz Deutschland bekannt und wird schon mal von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zur Bundespressekonferenz eingeladen.
Auch im Ausland ist Federle mittlerweile eine große Nummer, der britische Sender BBC war zu Besuch, das "Wall Street Journal" hat sie porträtiert und eine japanische Zeitung ein doppelseitiges Interview mit ihr veröffentlicht. Sogar ein Angebot, in einem Film zu Corona mitzumachen, liegt auf Federles Tisch.
"Echt verrückt", sagt die Pandemiebeauftragte des Landkreises Tübingen mit einem Lachen. Viel wichtiger ist ihr aber, dass das Tübinger Modellprojekt funktioniert: "Wenn wir testen, testen, testen und die Kurve trotz entdeckter Infektionen und den Öffnungen nur langsam ansteigt, ist das genau der richtige Weg, mit dieser Krise umzugehen."
Lisa Federle hat frühzeitig erkannt, dass das Virus, solange der Impfstoff noch nicht da ist, nur mit umfangreichen Tests bekämpft werden kann. Tübingen setzte als eine der ersten Städte Deutschlands schon im April 2020 auf Tests in Alten- und Pflegeheimen, schon viel früher als andernorts gab es kostenlose FFP2-Masken für Menschen über 65, und ältere Menschen hatten die Geschäfte in der Stadt morgens für sich.
Federle hat bei ihrem Engagement gelernt, immer wieder bürokratische Hürden aus dem Weg zu räumen, ist beim Kauf von Tests volles, auch eigenes Risiko eingegangen und kam schließlich auf die Idee zu dem Modellprojekt, als die Tübinger Inzidenzwerte unter 35 lagen. Die Tests ließ sie dabei erst einmal durch einen Tübinger Unternehmer zwischenfinanzieren.
"Wir können in Deutschland mit unseren Gesetzen und Vorschriften keine Krise, in der Krise fehlen völlig die Pragmatiker", sagt die Ärztin, "und mit so einem Projekt wie jetzt in Tübingen nimmst du die Menschen mit. Und selbst, wenn es nicht klappt, kannst du sagen, du hast es wenigstens versucht. Es ist immer besser, als nichts zu machen."
Mit der Studie, die wissenschaftlich von der Universität Tübingen begleitet wird, will Lisa Federle auch herausfinden, ob die Theater oder Kinos wirklich zu den Pandemietreibern gehören oder vielleicht am Ende vollkommen harmlos sind. Ein ewiger Lockdown sei keine Alternative, man müsse den Menschen mit Öffnungen eine Perspektive geben, sagt Federle: "Wir bezahlen sonst mit psychischen Langzeitschäden, von denen wir jetzt noch keine Vorstellung haben."
Grüner Oberbürgermeister setzt auf "Learning by doing"
Als Boris Palmer auf dem Marktplatz zum Rathaus schlendert, bekommt der Oberbürgermeister erst einmal lauten Zuspruch: "Vielen Dank für Ihren Einsatz", rufen ihm die Menschen zu, die stoisch Schlange stehen für ihren Corona-Test per Nasenabstrich, um sich für einen Tag in ihr altes Leben zurückzutesten. Ganz so, als wäre es das Normalste auf der Welt an einem Vormittag in Tübingen, so wie Frühstücken, Zähneputzen oder Duschen.
"Es läuft gut, fast zu gut", sagt Palmer zufrieden beim Blick auf die Schlange, "aber wir haben so viel Nachfrage nach den Tests, dass es unsere Hauptaufgabe jetzt ist, die Kapazitäten von 250.000 Tests für die drei Wochen des Modellprojekts noch zu erhöhen."
Wenn Lisa Federle die Architektin des Tübinger Weges ist, ist Boris Palmer der Bauleiter. Der Oberbürgermeister der Grünen trägt die Initiativen in die Politik und setzt sie um, hat auch seinen Parteikollegen und Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann, schnell von dem Modell überzeugt. "Das sind genau die innovativen Ideen, die wir in der Pandemie dringend brauchen", so Kretschmann.
Palmer hat jetzt schnell noch die Testzentren sieben und acht hochziehen lassen, außer am Sonntag sind sie den ganzen Tag über geöffnet. Was sein Traumergebnis des Modells wäre? "Dass wir besser durch die nächsten drei Wochen kommen als Kreise, die einfach nur zugemacht haben. Und wenn wir mit Testen und Öffnen besser fahren als mit Nicht-Testen und Zumachen, haben wir etwas gelernt, was wir für das ganze Land nutzen können."
Das ganze Land traf Anfang März nach Ansicht vieler die falsche Entscheidung: Deutschland gab dem immensen Druck nach Öffnungen nach, ohne allerdings eine Teststrategie zu haben. Also öffnen, ohne zu testen. Jetzt schnellen die Inzidenzwerte täglich in die Höhe – ein Ergebnis, dass viele Wissenschaftler und der Tübinger Bürgermeister nicht anders erwartet haben.
"Jetzt laufen wir voll in die dritte Welle rein und müssen wieder alles zumachen. Das wundert mich sehr, dass man da so hineingestolpert ist", sagt er, "ich habe mich ja von Anfang an für Öffnungen eingesetzt, aber ich war selbst erschrocken, als ich hörte, wir machen das jetzt ohne Tests. Wir kommen in Deutschland einfach an unsere Grenzen, wenn wir schnell und agil sein sollen."
Tübingen könnte jetzt allerdings auch zum Opfer der landesweit steigenden Inzidenzzahlen werden. Zwar darf das Projekt auch dann weiterlaufen, wenn das Land Baden-Württemberg wieder Lockerungen zurücknimmt. Nur dürfen die Zahlen in der Stadt selbst nicht explodieren – beispielsweise dadurch, dass Einkaufstouristen das Virus mit nach Tübingen schleppen.
"Wenn wir die einzigen sind, die noch offen haben, dann ist es aussichtslos. Dann kommt das halbe Bundesland aus Langeweile hierher", sagt Boris Palmer. In Tübingen ist die Inzidenz auch wieder auf über 50 gestiegen. Noch sieht es gut aus für das Corona-Modell, aber auch ein Scheitern hat der Oberbürgermeister einkalkuliert. "Wenn wir trotz des Testens zum Landkreis mit der höchsten Inzidenz werden würden, brechen wir das Projekt ab."
Der Gastronom, der auf viel Sonne hofft
Theo Kalaitzidis wäre darüber mehr als traurig. Denn der Gastronom gehört wie das Team vom Zimmertheater zu den Menschen, die vom Tübinger Modell profitieren sollen. Sein Restaurant und Café "Collegium" ist jedem der knapp 30.000 Studenten und Studentinnen ein Begriff und beliebter Treffpunkt – seit einigen Tagen ist dies zunächst wieder draußen mit negativem Corona-Test möglich.
"Gerade der erste Tag war natürlich ziemlich stressig, aber jeder Sitzplatz hilft uns. Das Motto für die nächsten Tage muss einfach lauten: Sonne, Stühle und Bänke raus, hinsetzen", sagt Kalaitzidis.
Ausgerechnet die Sonne machte ihm in den ersten Tagen einen gehörigen Strich durch die Rechnung. Stattdessen fielen dicke Schneeflocken vom Himmel, viele Gastronomen Tübingens verzichteten deswegen trotz Erlaubnis auf eine Öffnung. Der Inhaber des "Collegium" lässt sich davon nicht beirren, stellt bei jedem noch so zarten Sonnenstrahl einige seiner zwölf Tische in die Altstadt. "Sobald die Sonne richtig da ist, werden auch die Menschen da sein. Die Leute sind absolut ausgehungert."
Durch die Überbrückungshilfen konnte sich der Gastronom einigermaßen über Wasser halten, doch auch er musste seine finanziellen Reserven anzapfen. Theo Kalaitzidis ist zwar optimistisch, dass das Tübinger Projekt wieder ordentlich Geld in seine leeren Kassen spült, bis Ende 2021 könne aber alles passieren.
"Das Horror-Szenario ist, dass wir im Herbst und Winter wieder zumachen müssen, weil die Impfungen zu langsam oder weil neue Mutationen da sind", sagt er. "Wenn aber alles gut läuft, können im September die Studenten und Studentinnen endlich ihr Leben ein wenig genießen und vor den Toren Tübingens stehen die Reisebusse voll mit Touristen."