Peru fehlt der Sauerstoff
18. September 2020"Respira Peru", "Atme Peru" heißt die Spendenkampagne, das rot-blaue Logo mit der Luftröhre und zwei Lungenflügeln kennt in Lima und Umgebung mittlerweile jeder. Die katholische Kirche kauft mit den Geldern kleine Sauerstoffanlagen für Provinzstädte. Das Versprechen: Viele Peruaner, die wegen des Coronavirus an Sauerstoffmangel leiden, werden bald 'Danke' sagen.
Für Tausende Peruaner kommt diese Initiative allerdings zu spät.Sie starben qualvoll zu Hause, aber auch in Krankenhäusern, weil sie nicht mehr atmen konnten, da ihnen der Sauerstoff fehlte. Atme, Peru? Der Andenstaat wird eher in die Geschichtsbücher eingehen als das Land, das in der Corona-Krise auch Opfer einer Monopolstellung in der Sauerstoffversorgung wurde.
Die verzweifelte Suche nach Sauerstoff zu Mondpreisen
"Es gibt hier viele Orte, wo es schlichtweg keinen Sauerstoff gibt, vor allem im Süden. Manchmal müssen Sauerstofftanks über Hunderte von Kilometern dorthin transportiert werden", sagt der Ingenieur Fernando Jimenez, der an der Päpstlichen Universität von Peru in Lima lehrt, "und dann brauchen sie in diesen Städten zwei Wochen, um die Tanks aufzufüllen."
Sauerstoff ist in Peru das neue Gold. In vielen Kliniken ist das medizinische Gas ausgegangen, die Angehörigen werden aufgefordert, selbst die Flaschen in die Krankenhäuser zu bringen. Deswegen floriert der Schwarzmarkt.
Verzweifelt stehen die Menschen Schlange, um eine der kostbaren grünen Flaschen für ihre kranken Verwandten zu erstehen. Die Preise sind explodiert und haben viele Peruaner schon in den finanziellen Ruin getrieben.
Corona bestraft peruanische Gesundheitspolitik
"Es gibt verschiedene Faktoren für unseren Sauerstoffengpass. Dafür verantwortlich ist zum einen die Regierung, die nicht die notwendigen Maßnahmen einleitete, als sich dieser Engpass abzeichnete. Bereits Ende März, Anfang April war absehbar, dass die Versorgung gefährdet ist", erklärt Jimenez. Damals schlug auch die staatliche Ombudsstelle Alarm und warnte vor dem sich abzeichnenden Sauerstoffmangel in den Kliniken.
Doch nichts passierte. Traurige Konsequenz: Auch viele junge Menschen ohne Vorerkrankungen starben an Covid-19, der tödliche Verlauf der Krankheit wäre durch eine rechtzeitige Versorgung mit Sauerstoff vermutlich vermeidbar gewesen.
Die Versäumnisse liegen jedoch viel länger zurück. Was in den meisten Ländern medizinischer Standard ist, nämlich die Krankenhäuser mit eigenen Sauerstoffanlagen auszustatten, stand beim peruanischen Gesundheitsministerium niemals oben auf der Agenda. Dann kam Corona – und der desaströse Zustand des peruanischen Gesundheitssystems wurde offensichtlich.
Monopolfirmen in der Pandemie überfordert
Der Versorgungsengpass mit medizinischem Sauerstoff in Peru hat aber noch einen zweiten Grund, sagt Fernando Jimenez: "Die beiden Unternehmen, die sich den Markt teilen, kamen mit dem Sauerstoff in der Corona-Krise einfach nicht mehr hinterher."
Die Firmen, die den peruanischen Markt dominieren, heißen AirProducts und PraxAir. AirProducts ist ein US-amerikanisches Unternehmen und beliefert 20 Prozent der staatlichen und privaten Krankenhäuser. Der Marktführer Praxair hält 80 Prozent der Lieferverträge - dahinter steckt die deutsche Linde-Gruppe.
Die Geschichte der beiden Sauerstoffanbieter in Peru ist ein Paradebeispiel dafür, welche furchtbaren Konsequenzen es haben kann, wenn nur einige wenige Unternehmen sich einen Markt aufteilen, plötzlich akuter Lieferungsbedarf besteht und dieser trotz erhöhter Produktion nicht gedeckt werden kann. Denn kleinere Sauerstofffirmen wurden in den vergangenen 15 Jahren von dem Kartell geschluckt oder mussten aufgeben.
Prozess wegen illegaler Preisabsprachen
Das peruanische Gesundheitsministerium beförderte auch noch die Alleinstellung am Markt, in dem es 2010 Sauerstoff mit einem Reinheitsgrad von weniger als 99 Prozent für den medizinischen Gebrauch verbot. Ein klassisches Eigentor, denn ältere einheimische Anlagen mussten deswegen dicht machen. Und das, obwohl in den Nachbarländern Patienten auch mit Sauerstoff mit einem Reinheitsgrad von 93 Prozent versorgt werden.
2013 verhängte die peruanische Kartellbehörde Indecopi ein Bußgeld von umgerechnet fünf Millionen Euro gegen Linde-Praxair und Airproducts. Der Vorwurf: illegale Preisabsprachen. Vor gerade einmal drei Monaten wurde die Strafe in letzter Instanz bestätigt, nachdem die beiden Firmen zunächst Widerspruch eingelegt hatten.
Peru hat jetzt als Konsequenz seine eigenen, ganz speziellen Corona-Regeln: Per Notdekret hat die Herstellung medizinischen Sauerstoffs höchste Prioriät, die 99-Prozent-Reinheitsregel wurde ausgesetzt und eine einheimische Fabrik soll helfen, den immensen Bedarf zu decken.
Die Sauerstoffanlagen von Fernando Jimenez
In der Krise schlägt außerdem die Stunde der Erfinder und Tüftler, und damit die von Fernando Jimenez: Der Ingenieur hat mit seinen Studenten und einem kleinen Unternehmen innerhalb von drei Wochen einen Prototypen für eine Sauerstoffanlage entwickelt: "Das war jetzt keine Neuigkeit oder Ergebnis einer langen Forschung, die Technologie war schon seit Jahrzehnten bekannt", sagt der Ingenieur ganz unbescheiden, "unsere Schwierigkeit war nicht technischer Natur, sondern die Bürokratie. Die bürokratischen Hürden waren extrem hoch."
Wochen hätten sie gebraucht, um überhaupt eine Erlaubnis für die Herstellung zu bekommen, klagt Jimenez, auch, weil niemand etwas Vergleichbares schon einmal gemacht hätte. Heute stapeln sich die Aufträge in seinem Büro. Ein großes Geschäft machen wolle er mit seinen Sauerstoffanlagen aber nicht - jetzt sei das Partnerunternehmen gefordert.
Was Peru aus dieser ganzen Geschichte lernen sollte? "Wir müssen in Corona-Zeiten, aber auch danach gesellschaftliche Akteure aus allen Schichten zusammenbringen: Wissenschaftler und Forscher, Politiker, die Kirche, die Zivilgesellschaft", fordert Fernando Jimenez, "nur dann können wir so komplexe Probleme wie jetzt den Sauerstoffengpass lösen."