Corona: "Vacunagate" - die Impfdrängler aus Peru
20. Februar 2021Der ehemalige Präsident. Seine Frau. Sein Bruder. Die Außenministerin. Die Gesundheitsministerin. Ihr Chauffeur. Der Ehemann einer Kongressabgeordneten. Zwei Rektoren einer Universität. Agrarindustrielle. Und auch der Vatikanbotschafter und Erzbischof.
Die Liste der Vordrängler in Peru umfasst 487 Namen. 487 Personen, die sich zu früh, geheim und illegal mit dem chinesischen Impfstoff von Sinopharm gegen COVID-19 impfen ließen. Jeder vierte von ihnen ist beim peruanischen Staat angestellt.
"Vacunagate" tauften die peruanischen Medien publikumswirksam den Impfstoff-Skandal. Und so wie der Watergate-Skandal 1972 weit mehr war als der Einbruch in das Hauptquartier der Demokratischen Partei in Washington, geht es im Andenstaat auch um weit mehr als sich mal eben durch ein Kavaliersdelikt vor das Gesundheitspersonal zu drängeln.
Denn war das Vertrauen der Peruaner in ihre Politiker schon vor Corona wegen zahlreicher Korruptionsskandale sehr niedrig, tendiert es nun gegen Null. Ausgerechnet in Zeiten einer Jahrhundert-Pandemie. Und knapp zwei Monate vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 11. April.
Peruanische Politiker greifen bei den verbliebenen Impfdosen zu
"Die Peruaner sind sehr enttäuscht. Früher hatten wir wir in den Regierungen mafiaähnliche Zustande, mit Verbindungen zum Drogenhandel. Die Leute haben gehofft, dass die neuen Verantwortlichen anders sind", sagt Mayte Dongo, Historikerin und Politikwissenschaftlerin an der Katholischen Universität von Peru in Lima. Doch das vielleicht Schlimmste sei: die Vordrängler hätten den Peruanern den Spiegel vorgehalten. "Viele Peruaner hätten wohl genauso gehandelt."
Im August des vergangenen Jahres hatte der chinesische Sinopharm-Konzern eine großangelegte Phase-III-Impfstudie in 125 Ländern aufgelegt, auch in Peru. Während das Vakzin in Serbien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain schon zugelassen ist, prüft die Weltgesundheitsorganisation derzeit noch die Genehmigung. Bei der Studie in Peru blieben 3200 Impfeinheiten übrig. Und viele Politiker bedienten sich.
"Natürlich verbindet die Bevölkerung den Skandal auch mit der neuen Regierung", sagt Dongo. Nicht mit Staatschef Francisco Sagasti, der Mitte November vom Kongress zum Übergangspräsidenten gewählt wurde. Wohl aber mit der Gesundheitsministerin Pilar Mazzetti und der Außenministerin Elisabeth Astete. Beide sind mittlerweile zurückgetreten, ihnen drohen bis zu acht Jahren Haft.
Abenteuerliche Ausreden und Lügen der Impfdrängler
Vielleicht hätten die Peruaner den Politikerinnen das Vordrängeln noch halbwegs verziehen, nicht aber die Chuzpe, mit der sie sich herauszureden versuchten. "Ich konnte mir als Außenmininisterin nicht den Luxus erlauben, krank zu werden", sagte Astete. Ihre Kabinettskollegin Pilar Mazzetti setzte aber noch einen drauf.
"Diejenigen von uns an der Spitze der Institutionen müssen ein Beispiel setzen, anständig auf unseren Moment zu warten. Eigentlich bin ich nächste Woche dran, aber der Kapitän ist der Letzte, der das Schiff verlässt, nicht wahr?", tönte sie auf einer Pressekonferenz vor zehn Tagen. Dumm nur, dass Mazzetti Tage später kleinlaut zugeben musste, als Erste in ein Rettungsboot gestiegen zu sein. Auch sie hatte sich heimlich impfen lassen.
Möglicher Denkzettel bei den Wahlen am 11. April
Sonderlich verwundert ist Mayte Dongo über die Gebaren der Politiker nicht. "Bevor der Impfstoff gekommen ist, haben die Menschen schon gesagt, passt auf die Vakzine auf, weil es Menschen geben wird, die sich vordrängeln werden", sagt die Politologin. Für die Wahlen fürchtet sie ernsthafte Konsequenzen.
"Viele Politiker haben das in sie gesetzte Vertrauen verspielt und das werden wir möglicherweise schon im April bei den Wahlen spüren", so die Politologin, "weil die Menschen die Schnauze gestrichen voll haben, könnten sie einen Kandidaten wählen, der nichts mit dem Establishment zu tun hat. Und das ist gefährlich, weil der Populismus davon profitieren könnte."
Was den Impfstoff-Skandal von Peru so besonders macht
Nun geschieht das, was in Peru passiert ist, täglich auf der ganzen Welt. In Deutschland und Österreich drängeln sich Bürgermeister vor, in Spanien der oberste Militär und der Bischof von Mallorca, in Polen der frühere Ministerpräsident, in Großbritannien ein konservativer Abgeordneter. So wie sich die Industriestaaten bei der Impfstoffbestellung rücksichtslos eindecken, sind es bei den Impfungen Menschen aus der Oberschicht, die für eine schnelle Spritze ihre guten Beziehungen spielen lassen.
Für den Neurobiologen Edward Málaga-Trillo ist der Fall Peru trotzdem unvergleichlich. "Zum einen ist die Dimension viel größer. Außerdem waren ja nicht nur Politiker, sondern auch Forscher und Ärzte unter den Geimpften, die besser als jeder andere wissen müssten, welche ethische Linie sie da überschreiten", sagt der Neurobiologe aus Lima. "Vor allem aber passiert das in einem Land, das zeitweise die meisten Corona-Toten weltweit hatte, gemessen an der Bevölkerung. Das also unter dem Virus so gelitten hat wie kaum ein anderer Staat."
Mehr als 44.000 Menschen sind in Peru bislang an den Folgen einer COVID-19-Erkrankung gestorben, bei 33 Millionen Einwohnern rangiert das Land immer noch auf Platz 8 dieser traurigen Corona-Statistik. Auch für die Ärzte und Forscher ist "Vacunagate" ein Schlag ins Gesicht. Málaga-Trillo, der mehr als zwei Jahrzehnte in Deutschland geforscht hat, empfindet den Skandal gar als "persönliche Beleidigung".
Peru kämpft gegen vier Krisen gleichzeitig
Er und sein Team stehen während der ersten Welle der Pandemie an vorderster Front. Bis Anfang 2000 betreibt der Neurobiologe mit den 3000 Zebrafischen in seinem Labor noch Grundlagenforschung zur Alzheimerkrankheit. Mit Ausbruch der Pandemie sattelt er um und entwickelt im Schnellverfahren molekulare Corona-Schnelltests.
Dafür nehmen die Forscher ein hohes persönliches Risiko auf sich. Während die meisten Peruaner wegen des Lockdowns zu Hause hocken, geht seine junge Mannschaft raus auf die Straße und arbeitet Tag für Tag mit Proben des Virus. "Und dann musst Du erfahren, dass einige Privilegierte, die keiner Gefahr ausgesetzt sind, sich impfen lassen. Du hast das Gefühl, dass all die Opfer, die Du für Dein Land bringst, nicht geschätzt werden und eigentlich nichts wert sind."
"Vacunagate" sei, so Málaga-Trillo, die vierte Krise, die Peru gleichzeitig treffe. Neben der Pandemie, der wirtschaftlichen und der politischen Krise sei nun noch eine moralische Krise dazugekommen. "Selbst das Gesundheitsministerium, das die Verantwortung für die Pandemiebekämpfung innehat und ein Beispiel geben müsste, stellt die persönlichen Interessen nicht hintenan. Die Personen also, die Perus Bevölkerung schützen sollen, denken zuerst an sich."
"Vacunagate" fatal für die weitere Pandemie-Bekämpfung
Die Folgen sind verheerend, ausgerechnet für die Forschungsstätte des Neurobiologen. Die Universität Peruana Cayetano Heredia galt als peruanische Charité, als Elite-Uni in der Pandemieforschung, ihre Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen hatten einen ähnlich guten Ruf wie der deutsche Virologe Christian Drosten. Doch die Impfstoff-Studie mit Sinopharm fand ausgerechnet an der Hochschule in Lima statt.
Als Konsequenz hagelt es Rücktritte, Forschungsgelder für die Universität werden zurückgehalten, klinische Studien können möglicherweise nicht mehr dort durchgeführt werden. "Diese Menschen haben auch die Wissenschaft beschmutzt, auch für die weitere Corona-Bekämpfung ist das ein harter Schlag", sagt Edward Málaga-Trillo.
"Vacunagate" ist, so viel steht fest, schon jetzt ein weltweites Mahnmal in Sachen Impfdrängeln. Doch der Forscher befürchtet, dass das vielleicht erst der Anfang des Skandals ist. "Es ist noch nicht vorbei. Wir sind alle gespannt, welche Namen und Überraschungen uns noch in den nächsten Tagen erwarten."