Coronavirus: Altenheime schotten sich ab
10. April 2020"Den nächsten Umzug mache ich in einer Kiste mit sechs Nägeln", scherzte Oma Lotte manchmal. Lange Zeit wollte się nicht aus ihrem Haus im baden-württembergischen Remseck ausziehen. In der Familie war sie bekannt für ihre freundliche Sturheit. Doch Mitte Februar fehlten der 95-Jährigen plötzlich die Kräfte, selbst aus dem Bett kam sie nicht mehr allein. Die Fürsorge der Familie reichte nicht - Oma Lotte musste ins Pflegeheim.
Ihre Enkelin Sandra Kaißer fuhr jede Woche hin. "Solange man sie besuchen konnte, ging es ihr noch verhältnismäßig gut," sagt die 35-Jährige. Das dauerte aber nicht lange. Oma Lotte war gerade einmal drei Wochen im Pflegeheim, als Besuche verboten wurden. Die Isolation soll die Bewohner vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus schützen. "Danach hat sich ihr Zustand dramatisch verschlechtert. Sie wurde immer bedrückter und konnte nicht mehr", erzählt Kaißer. Telefonieren klappte nicht, da die Großmutter schwerhörig war und auch das Sprechen ihr immer schwerer fiel. Die Familie schrieb ihr Postkarten, um die Verbindung zu Oma Lotte nicht ganz abreißen zu lassen.
Sterbende verlassen
Der Anruf aus dem Altenheim kam Ende März: Oma werde bald sterben, sagte die Pflegerin am anderen Ende der Leitung. Besuche zur Sterbebegleitung sind als Ausnahme gestattet. Doch die Familie durfte erst zwei Tage später ins Heim, als das Sterben unwiderruflich begonnen hatte. Und auch das nur begrenzt: eine Person am Tag, für eine Stunde. "Niemand will einer sterbenden Person sagen, ich muss bald gehen", sagt Kaißer mit brechender Stimme.
Als vor zehn Jahren Kaißers Großvater starb, waren mehrere Familienmitglieder lange bei ihm, redeten, haben so ihn und sich gegenseitig getröstet. Am 2. April war Kaißer allein, hat ihre Oma gestreichelt und zu ihr gesprochen. Die Sterbende beruhigt. Doch um 17 Uhr musste die Enkelin gehen. Drei Stunden später ist Oma Lotte gestorben.
Besondere Gefahr für die Älteren
Vieles sieht in diesen Tagen in Altenheimen anders aus als sonst. Obwohl man den Umgang mit Krankheiten und dem Sterben gewohnt ist, hat das Coronavirus seinen Schatten auf den Alltag in vielen Einrichtungen geworfen. Besuche werden verboten, Veranstaltungen abgesagt, man versucht, sich abzuschotten und damit über 800.000 Senioren zu schützen, die deutschlandweit in etwa 11.700 Pflegeheimen wohnen. Denn sie gehören zur Risikogruppe, bei der Infektionen mit dem Coronavirus oft schwer verlaufen. Am Dienstag informierte das Robert Koch-Institut (RKI) darüber, dass das Durchschnittsalter der Verstorbenen in Deutschland bei 80 Jahren liege.
Das Hanns-Lilje-Heim in Wolfsburg in zum Symbol dieser Gefahr geworden. Dort hat sich etwa die Hälfte von 165 Bewohnern infiziert, 33 sind bisher gestorben. Einrichtungen in immer mehr Städten sind betroffen: etwa im westdeutschem Mönchengladbach, in Ahlbeck auf Usedom oder im bayerischen Langenzenn.
Genaue Zahlen über Corona-Todesfälle in Altenheimen sind nicht bekannt. Schaut man über die Grenzen, bekommt man eine Ahnung davon, was auch hierzulande Realität zu werden droht. In Spanien sind bis Ende März 1500 Bewohner von Altenheimen an den Folgen von Corona-Infektion gestorben, in Frankreich waren es bis zu dieser Woche mehr als 2400 Menschen. Auch in Deutschland rechnet das RKI nun mit höheren Sterberaten als bisher, weil das Virus in Altenheimen angekommen ist.
Angehörige bangen um die Pflege
Im Gegensatz zu den meisten anderen Bundesländer sind in Berlin einstündige Besuche pro Tag noch erlaubt. Trotzdem schließt ein Großteil der Einrichtungen komplett seine Türen, so auch die Caritas-Altenhilfe. "Wir erleben sehr viel Verständnis dafür, weil die Angehörigen sich große Sorgen um ihre Liebsten machen", sagt Thomas Gleißner, Sprecher der Caritas in Berlin, die vergangene Woche ihre Besuchsregeln verschärft hat.
Beim BIVA-Pflegeschutzbund, einem Verband, der die Interessen von pflegebedürftigen Menschen vertritt, häufen sich Anrufe von besorgten Familien. "Sie haben Angst, dass die Pflegemaßnahmen jetzt nachlassen," sagt Rechtsreferent Markus Sutorius. Denn schon vor der Krise fehlten in Altenheimen mehrere Tausend Pflegekräfte. Die Angehörigen haben oft beim Waschen, Essen oder Einkaufen ausgeholfen. Nun fällt diese Hilfe weg.
Obwohl kurzfristige Besuchssperren sinnvoll seien, sieht Sutorius Einschränkungen kritisch, die über geltende Verordnungen hinausgehen, wie etwa bei der Caritas in Berlin. "Erschreckend" seien zudem Berichte über Heime, die ihre Bewohner gar nicht mehr hinaus lassen. Der Jurist mahnt: um Demenzkranke isolieren zu können, brauche man entweder eine angeordnete Quarantäne oder einen richterlichen Beschluss. Probleme gibt es letztlich bei der Interpretation von Ausnahmen zur Sterbebegleitung: ab wann, für wie lange und wie viele Angehörige dürfen zu Besuch kommen? Diese Entscheidung sei derzeit den Heimleitern überlassen.
Rasante Verbreitung
Um das Risiko zu minimieren, haben Niedersachsen und Bayern sogar einen Aufnahmestopp für Altenheime verhängt. Doch selbst bei strengen Sperren kann man eine Infektion nicht völlig ausschließen, sagt Robert Schneider, Leiter eines AWO-Seniorenzentrums in Langenzenn unweit von Nürnberg. Mittlerweile sind dort 62 der 113 Bewohner sowie Dutzende Pflegekräfte infiziert, acht Senioren sind gestorben. "Wir wissen nicht, wie das Virus zu uns gekommen ist", sagt Schneider.
Nach dem ersten bestätigten Fall haben sich die Infektionen rasant verbreitet, auch weil die Tests mehrere Tage in Anspruch nahmen. Nun versucht man, die infizierten von den gesunden Bewohnern zu trennen. Das sei aber räumlich schwierig, weil "das ganze Wohnkonzept auf soziale Kontakte ausgelegt ist", erläutert Schneider. Darüber hinaus sind 80 Prozent der Bewohner dement und verstehen nicht, dass sie auf ihren Zimmern bleiben sollen. "Wir fixieren sie nicht, weil sie dann durch die Fixierung und nicht durch Corona sterben könnten", sagt Schneider.
Gefahr bei anderen Krankheiten steigt
Experten schauen mit großer Sorge auf die Altenheime, weil Vereinsamung und Isolation für ältere Menschen gefährlich werden können. Die Heimträger versichern, die nötige Einzelbetreuung zu organisieren. Doch Mediziner fürchten, dass psychologische Beratung, die schon vor der Krise knapp war, nun wegen der Konzentration auf Infektionsschutz und Personalmangel unter den Tisch fallen könnte.
"Isolation kann den Verlauf von chronischen Erkrankungen und das psychische Gesundheitsbild verschlechtern," warnt Johannes Pantel, Professor für Altersmedizin an der Universität Frankfurt. Man müsse die Corona-Schutzmaßnahmen gegen die negativen Nebeneffekte abwägen. Denn isolierte Menschen "sterben früher, als es sonst ihre Lebenserwartung wäre".
Alleine mit der Trauer
Oma Lotte war schon sehr schwach, als sie im Pflegeheim ankam. Doch ohne Isolation hätte der letzte Abschnitt ihres Lebens anders aussehen können, sagt ihre Enkelin Sandra Kaißer.
Sie ist dankbar für die Pflegerinnen, die sich bis zum Ende um ihre Großmutter gekümmert haben. Zugleich ist sie müde und traurig über ihre eigene Machtlosigkeit.
In Baden-Württemberg sind Bestattungen momentan nur im engsten Kreis der Familie mit fünf weiteren Personen erlaubt. Zudem lebt die Familie verstreut in Deutschland und dem Ausland und kann jetzt nur schwer anreisen.
Sie haben sich deshalb entschieden, die Bestattung und Trauerfeier auf die Zeit nach Corona zu verlegen. "Es fehlt unheimlich, mit anderen zusammen zu sein, zu sprechen, die Trauer wahrzunehmen", sagt Sandra Kaißer.