"Jetzt müsst ihr lernen, ohne mich zu leben"
14. Mai 2020Die Gedenkliste wird immer länger. Auf der Internetseite, die von einer Initiativgruppe russischer Ärzte eingerichtet wurde, stehen inzwischen über 170 Namen. Es sind Ärzte, Krankenpfleger, Sanitäter, Laborassistenten und andere Beschäftigte im Gesundheitswesen, die während der Coronavirus-Pandemie an dem Virus erkrankt und gestorben sind.
Die Liste basiert auf Angaben der Behörden sowie auf Meldungen von Arbeitskollegen und Angehörigen der Toten. Gleichzeitig gibt es täglich Berichte über Hunderte neue COVID-19-Erkrankungen unter russischen Ärzten. Viele von ihnen klagen über einen akuten Mangel an Schutzausrüstung.
Aleksej Wasiltschenko: "Bitte weint nicht auf meiner Beerdigung"
Auf der Gedenkliste steht auch der Name von Aleksej Wasiltschenko. "Ich habe Papa zwei- bis dreimal am Tag angerufen, Mama noch öfter", sagt seine Tochter Jekaterina. Ihr Vater leitete die Röntgenabteilung im Zentralkrankenhaus der Stadt Labinsk in der Region Krasnodar im Süden Russlands. Anfang April wurde es speziell für die Behandlung von COVID-19-Patienten hergerichtet. Seitdem war Wasiltschenko ständig dort im Einsatz.
Die Ärzte hätten lediglich medizinische Einwegmasken bekommen, beklagt Jekaterina. "Mein Vater hatte ein großes Gesicht, diese Masken waren für ihn nutzlos. Wir mussten ihm selbst Masken aus Mull nähen", erzählt die 25-Jährige, die selbst Ärztin ist. Aleksej Wasiltschenko erkrankte schließlich an einer beidseitigen Lungenentzündung. Sein Corona-Test war positiv ausgefallen. Bereits am 26. April verstarb der 52-Jährige.
"Es ist nicht Aufgabe des Radiologen, mit Patienten zu sprechen. Aber Papa war oft der Erste, der sah, wenn es für Patienten gerade um Leben und Tod ging. Er fand immer die richtigen Worte für sie", so Jekaterina, die schon als Kind Ärztin werden wollte. Nur einmal hatte sie Zweifel - nach Abschluss des Studiums. "Jetzt sprechen alle von Ärzten als Helden. Aber die Gehälter waren immer gering und die Arbeit schwer. Das habe ich bei meinem Vater gesehen", betont sie. In den 25 Jahren, in denen Aleksej Wasiltschenko als Arzt tätig war, konnte sich die Familie nur drei Auslandsreisen leisten. "Wir mussten viel sparen", erinnert sich Jekaterina. Trotzdem habe ihr Vater seinen Job geliebt. Sogar in dem Monat vor seinem Tod habe er keinen Bonus erhalten und auf Urlaub verzichten müssen.
"Papa war fröhlich, meine Klassenkameraden liebten ihn, denn er hatte immer einen Witz parat. In letzter Zeit war er jedoch öfter traurig", sagt sie. "Ich möchte ihn aber als lustigen Schelm in Erinnerung behalten, der immer mit uns getanzt hat." Als er erkrankte und anrief, um sich zu verabschieden, habe er seiner Frau gesagt: "Bitte weint nicht auf meiner Beerdigung, das würde mir sehr weh tun".
Für die Beisetzung gab es Geld vom Krankenhaus, doch die Familie fand später heraus, dass die Ärzte es gesammelt hatten.
Julia Jasjulewitsch: "Ich kann kaum atmen"
Auch Krankenpflegerin Julia Jasjulewitsch starb an den Folgen ihrer COVID-19-Erkrankung. "Ich wusste, dass meine Mutter im Krankenhaus war. Sie war an ein Beatmungsgerät angeschlossen, lag aber im Koma", erzählt Tochter Ksenia. "Sie war immer gesund und sportlich, und ich war mir sicher, dass sie wieder gesund wird - bis mein Vater schrieb, dass sie nicht mehr unter uns ist."
Zurzeit ist Ksenia Jasjulewitsch in Thailand. Erst konnte sie nicht nach Russland zurückfliegen, und jetzt will sie es nicht mehr. "Hier ist es sicherer. Ich kann für meine Mutter nichts mehr tun", so die 27-Jährige.
Ksenias Mutter Julia war beim Medizinischen Zentrum für Traumatologie und Orthopädie in St. Petersburg tätig. Dort bekam sie vor etwa einem Jahr einen Job als Krankenpflegerin, der ihr sehr gefiel. Davor arbeitete sie in einem Sportfachgeschäft, denn sie hatte auch eine Ausbildung als Trainerin. "Aber als meine Mutter von der Arbeit nach Hause kam, begann ihr zweiter Job: kochen, waschen, putzen. Sie schonte sich selbst nicht. Sie lebte ihr ganzes Leben für Andere", sagt Ksenia.
Sie erinnert sich daran, als ihre Mutter ihr erzählte, dass die halbe Krankenhausbelegschaft mit dem Coronavirus infiziert sei. Auch Julia Jasjulewitsch wurde krank, die bekam eine Lungenentzündung und musste behandelt werden. Ihrer Tochter schrieb sie: "Ich fühle mich sehr schlecht. Ich kann kaum atmen, es ist aber ein bisschen besser." Doch kurz darauf wurde sie auf die Intensivstation eines anderen Krankenhauses verlegt. Ksenia erinnert sich, das Fieber sei bei ihrer Mutter einen Tag vor ihrem Tod gesunken und sie habe sich besser gefühlt: "Ich dachte, sie würde es schaffen."
Doch Julia Jasjulewitsch verstarb am 1. Mai im Alter von 54 Jahren. Zunächst hieß es, die Todesursache sei eine Lungenentzündung. Erst weitere Untersuchungen ergaben, dass auch sie infiziert war. Ksenia glaubt, hätte sie nicht in sozialen Netzwerken über den Tod ihrer Mutter berichtet, hätte ihr Vater keine Anrufe mit Beileidsbekundungen aus dem Krankenhaus und auch keine Spenden für die Beerdigung bekommen.
Valentina Schuschina: "Jetzt müsst ihr lernen, ohne mich zu leben"
"Meine Mutter hatte am 25. März noch den ganzen Tag gearbeitet. Dann klagte sie über Bauchschmerzen", erzählt Anna Schuschina. Der Ultraschall ergab: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Damit galt sie als vorbelastet. Gleich danach wurde bei einer Computertomographie eine linksseitige Lungenentzündung festgestellt. "Sie wurde auf Corona getestet und das Ergebnis war positiv", sagt sie.
Ihre Mutter, Valentina Schuschina, war Operationsschwester in einem Unfallkrankenhaus in St. Petersburg. Dort arbeitete sie fast 30 Jahre lang. Valentina wurde sofort auf die Intensivstation gebracht. Das Atmen fiel ihr schwer. Schließlich kam es zu Lungenversagen. Sie verstarb am 18. April im Alter von 56 Jahren.
"In der Leichenhalle wusste man nicht einmal, dass sie das Coronavirus hatte. In der Sterbeurkunde stand: 'Umfangreiche Metastasen'", so die 34-Jährige. Sie ist sich aber sicher, dass ihre Mutter an COVID-19 starb: "Den Krebs hätte man noch mit einer Chemotherapie behandeln können", sagt sie. "Wir wollten dann wie jedes Jahr zusammen zu Verwandten nach Weißrussland fahren."
Ihre Mutter sei oft um Rat gefragt worden, sie habe vielen Menschen geholfen, erinnert sich Anna. "Natürlich sagte sie manchmal, sie sei müde. Oft hat sie von 8.30 Uhr ohne Pause bis zwei Uhr nachts gearbeitet", sagt sie. Anna, die Biologie studierte, absolvierte selbst einmal ein Praktikum im Krankenhaus ihrer Mutter. Diese habe ihr damals gesagt: "Du eine Medizinerin? Nur über über meine Leiche."
Anna wurde schließlich Buchhalterin und bereut es nicht. "Meine Mutter wollte immer nur das Beste für uns." Einige ihrer letzten Worte waren: "Jetzt müsst ihr lernen, ohne mich zu leben." Sie wusste, dass sie es nicht schaffen würde.