Schwierige Abwägungen bei Corona-Impfstoff-Entwicklung
19. Oktober 2020Ende September gab es weltweit fast 200 Corona-Impfstoff-Kandidaten in der Entwicklung. Darunter gibt es neun, die von Beobachtern als Favoriten betrachtet werden, weil ihre Entwicklung bereits weit fortgeschritten ist und sie sich mittlerweile in Phase III oder in einer kombinierten Studien-Phase II/III am Menschen befinden.
Einer der Impfstoffe, die eine besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, ist der sogenannte Oxford-Impfstoff ChAdOx1. Der Impfstoff der Firma Vaccitech ist von dem britisch-schwedischen Pharmakonzern AstraZeneca in Zusammenarbeit mit der Universität Oxford entwickelt worden und läuft auch unter der Bezeichnung AZD1222
Beschleunigte Prüfung durch EU
Die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA hat jetzt mit einer Überprüfung von AZD1222 begonnen. Es ist das erste Mal, dass dies in der Europäischen Union bei einem Corona-Impfstoff geschieht. Angesichts der Dringlichkeit wird die Überprüfung in einem beschleunigten Verfahren vorgenommen.
Um Zeit zu sparen, kontrolliert die Behörde dabei die Daten noch während sie erhoben werden. Gewöhnlich müssen diese Tests erst beendet sein, erst dann werden alle Ergebnisse der EMA auf einmal vorgelegt. Bei dem jetzigen Verfahren wäre es denkbar, dass der Impfstoff schon wenige Tage nach dem Ende der Tests freigegeben wird - falls die Behörde von seiner Wirksamkeit und Unbedenklichkeit überzeugt ist.
Die EMA wollte allerdings nicht sagen, wie lange die Überprüfung und Beurteilung dauern wird. Tests mit Tausenden von Versuchspersonen seien im Gange, die Ergebnisse würden in den nächsten "Wochen und Monaten" erwartet.
Riskante Vorbestellungen
Obwohl noch gar nicht klar ist, ob der Impfstoff am Ende zugelassen wird, haben bereits zahlreiche Regierungen , darunter auch Deutschland, zig-Millionen von Impfdosen vorbestellt. Und AstraZeneca hat bereits verbindlich mit dem Serum Institute of India die Produktion von mindestens 300 Millionen Dosen vereinbart.
Für die Regierungen, die den Impfstoff bestellt haben, aber auch für AstraZeneca selbst ist diese Vorplanung eine wirtschaftliche Wette. Wird der Impfstoff am Ende zugelassen und kann der Hersteller dann frühzeitig viele Impfdosen auf den Markt bringen, verspricht das erhebliche Gewinne. Die Risiken bei einer Nicht-Zulassung sind aber auch enorm.
Kritiker bringen sich in Stellung
Dadurch sehen sich Kritiker wie der österreichische Gesundheitsökologe Clemens Arvay bestätigt, der auf seinem Youtube-Blog ein Narrativ zeichnet, nachdem die mächtige Pharma-Industrie Hand in Hand mit Förderern wie Bill Gates und mit Duldung der Politik den Impfstoff aus Profitstreben um jeden Preis auf den Markt bringen wolle. Dabei schere sie sich nicht um die nötige medizinische Sorgfalt und setze die Gesundheit der Patienten aufs Spiel.
Im Wesentlichen untermauert der Biologe sein Argument mit vier Punkten: Der Wirkstoff habe in der vorklinischen Phase bei Primaten keinen genügenden Schutz vor Infektionen erzielt und sei trotzdem für eine kombinierte Phase I und II zugelassen worden. In dieser habe es schwere Nebenwirkungen gegeben: Fieber und eine Abnahme weißer Blutkörperchen (Neutropenie). Trotzdem sei der Impfstoff für Phase III zugelassen worden. Und nun habe es in Phase III auch noch einen schweren Zwischenfall gegeben, eine Patientin erlitt eine Transverse Myelitis - dennoch gehe die Forschung weiter.
Forscher nehmen Sorgen ernst
"Ich kann verstehen, dass man die Sorge hat, dass nicht sorgfältig gearbeitet wird, weil der Druck so groß ist," sagt dazu der Virologe Prof. Dr. Stephan Becker von der Universität Marburg. "Insofern ist es berechtigt, genau hinzuschauen."
Becker war selbst an der Studie zur kombinierten Phase I und II beteiligt, indem sein Institut das Immun-Monitoring beim Neutralisations-Assay, der Untersuchung auf neutralisierende Antikörper, durchgeführt hat. Er und seine Kollegen haben also überprüft, ob eine von drei gewünschten Immunantworten auf die Impfung funktioniert haben.
Beim Neutralisations-Assay testen die Forscher die Funktionalität der Impfung und überprüfen, dass die durch das Immunsystem des Geimpften entwickelten Antikörper die Virus-Infektiosität hemmen können. Daneben haben andere Forscherkollegen einen serologischen Test (ELISA) durchgeführt, der nachweist, dass die Patienten Antikörper gebildet haben, die an das für SARS-CoV-2 typische Spike-Protein binden. Der dritte Test befasst sich mit der T-Zell-Antwort, also der erlernten Immunabwehr weißer Blutkörperchen.
"Ich habe nicht den Eindruck, dass die Industrie subtilen Druck auf Wissenschaftler und Zulassungsbehörden ausübt. Die Zulassungsbehörden konzentrieren sich jetzt sehr auf die COVID-19-Impfungen und bearbeiten das bevorzugt, aber das bedeutet keineswegs, dass weniger sorgfältig gearbeitet wird," sagt Becker.
Ist der Impfstoff überhaupt wirksam?
Arvay beruft sich bei seiner Kritik unter anderem auf den prominenten US-Genetiker und Molekularbiologen William A. Haseltine. Dieser hatte im Mai in einem Artikel in Forbes Zweifel an der Wirksamkeit des Impfstoffs geäußert. Er habe in der vorklinischen Phase, also im Tierversuch enttäuscht. Prof. Becker hingegen interpretiert das Ergebnis der als Preprint auf BioarXiv und in Nature veröffentlichten Studie anders.
Zunächst wurde der Impfstoff an Mäusen gestestet, später an Makaken. "Es wurde gezeigt, dass alle Mäuse eine Reaktion nach der Impfung zeigten," sagt Becker. Die Tiere haben dabei drei gewünschte Formen von Immunität gebildet: "Sie haben sowohl einen neutralisierenden Titer, als auch einen ELISA-Titer. Und es sieht so aus, dass auch die T-Zell-Antwort funktioniert." Bei den Makaken bewertet er das Ergebnis ähnlich. "Da sieht man, dass die Tiere nach einer Einmalimpfung ebenfalls im ELISA-Titer hochgehen und auch eine neutralisierende Antwort und eine T-Zell-Antwort haben."
Nach der Impfung wurden die Tiere infiziert und die Studie zeigt, dass sie eine Reduktion in der Viruslast in den Nasenabstrichen hatten. Lediglich bei den Lungenabstrichen sei die Reduktion der Viruslast "nicht so deutlich" gewesen. Daraus könne man aber nicht ableiten, dass die Impfung nicht funktioniert.
Das gelte umso mehr, als dass sich bei der kombinierten Phase I/Phase II Studie beim Menschen gezeigt habe, dass nach einer Einmalimpfung 91 Prozent der Geimpften spezifische Antikörper entwickelten, nach der zweiten Impfung sogar von 100 Prozent.
Grippeähnliche Nebenwirkungen
Der zweite Kritikpunkt konzentriert sich auf grippeartige Symptome, die etwa 70 Prozent der geimpften Probanden vorübergehende entwickelt hatten sowie hohes Fieber von über 38 Grad Celsius.
Auch Stephan Becker fand das ziemlich viel. "Aber wenn sich das schnell wieder legt, ist es akzeptabel zu sagen: Das ist keine schwere Nebenwirkung - in dem Sinne, dass sie sich nicht länger fortsetzt. Man würde sagen: 'Diese Nebenwirkung steht unmittelbar mit der Gabe des Impfstoffes in Zusammenhang und hat sich schnell wieder gelegt.'" In solch einem Fall müsse man abwägen, ob das Risiko für einen Patienten den Schutz vor einer Coronavirus-Infektion überwiegt.
Wichtig sei es dabei allemal zu prüfen, ob eine solche Impfung dann noch für diejenigen sicher zu verwenden ist, die insbesondere durch COVID-19 gefährdet sind, also ältere Menschen und solche mit Vorerkrankungen.
Vorübergehende Abnahme weißer Blutkörperchen
Bei jedem zehnten Teilnehmer der Phase I/Phase II Studie war ein Blutmonitoring durchgeführt worden und es zeigte sich, dass bei 46 Prozent dieser Patienten die Neutrophilen, das sind bestimmte weiße Blutkörperchen, vorübergehend abgenommen hatten.
Diese Neutropenie ist nach Ansicht von Arvay ein Anzeichen dafür, dass das Immunsystem durch die Impfung geschwächt werde. Demnach sei die Aufnahme der Phase III nicht gerechtfertigt gewesen.
In der Tat ist der Anteil der Probanden, bei denen dies beobachtet wurde, beträchtlich, stimmt auch Virologe Becker zu. Denn bei vielen herkömmlichen Impfungen trete eine Neutropenie deutlich seltener auf. Aber es gebe auch immer wieder Ausnahmen davon.
So ist etwa bei der Gelbfieber-Impfung eine Neutropenie eine sehr häufige Begleiterscheinung. Dennoch gilt die Gelbfieberimpfung als eine der sichersten Impfungen.
Also könne es gerechtfertigt gewesen sein, die Phase III aufzunehmen. "Wenn die Neutrophilen aus dem Serum verschwinden, liegt es daran, dass sie sich dorthin zurückziehen, wo sie jetzt gebraucht werden – hin zu der Stelle, wo gerade geimpft wird. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb sie relativ schnell wieder zurückkommen."
Die Neutropenie und das Fieber seien vermutlich gemeinsam zu interpretieren: "Es ist unangenehm, aber es ist auch ein Zeichen, dass das Immunsystem hier angesprungen ist."
Schwer sei es für Mediziner, in einer solchen Lage abzuwägen, ob es sinnvoll ist, die Impfstoffentwicklung weiterzuverfolgen. "Natürlich würde man sich von einem idealen Impfstoff wünschen, dass der überhaupt keine Nebenwirkungen hat und zu 100 Prozent schützt. Aber solch ein idealer Impfstoff ist wirklich selten, vor allem wenn er unter solchen Bedingungen wie jetzt entwickelt und geprüft werden muss. Den idealen Impfstoff werden wir wahrscheinlich jetzt nicht so schnell bekommen", prognostiziert Becker. Zudem komme es bei einer Virusinfektion normalerweise zu einer Neutropenie.
Eine Nervenerkrankung als Sonderfall?
Schwerer ist eine Nebenwirkung zu bewerten, die in der Phase III bei einer englischen Patientin Anfang September aufgetreten war. Sie hatte Symptome einer Transversen Myelitis, also einer Entzündung des Rückenmarkes. Dabei handelt es sich um eine neurologische Erkrankung, die als Autoimmunerkrankung gilt. Die Patientin konnte, indes schon nach kurzer Zeit aus dem Krankenhaus entlassen werden. Ende September berichtete die Fachzeitschrift Nature, in einer Nachrichtenmeldung dass es bereits zuvor möglicherweise einen weniger beachteten Fall einer Transversen Myelitis gegeben hatte, der sich danach mutmaßlich in eine Multiple Sklerose entwickelt hatte.
Autoimmunerkrankungen des Nervensystems treten in seltenen Fällen in Verbindung mit Impfungen auf, häufiger aber in Verbindung mit viralen oder bakteriellen Infektionen. Oft ist nicht eindeutig nachzuvollziehen, was die Erkrankung kausal hervorgerufen hat.
SARS-CoV-2 ruft zudem selbst auch häufig Autoimmunerkrankungen des Nervensystems hervor, die sehr schwer und unter Umständen tödlich verlaufen können.
Bereits wenige Tage nach der Entlassung der britischen Patientin aus dem Krankenhaus setzten die Wissenschaftler die Phase III Studie fort.
"Eine kurzfristige Unterbrechung der Studienrekrutierung, wie in diesem Fall jetzt geschehen, ist ein übliches Vorgehen bei klinischen Prüfungen," sagt dazu Prof. Dr. Clemens Wendtner, Chefarzt der Infektiologie an der Klinik Schwabing in München.
Er betont, dass nach Impfungen eine Transverse Myelitis üblicherweise bei 1,3 von einer Million Einwohnern stattfinde. Also sei es richtig gewesen, darauf zu reagieren. "Wenn schwere Nebenwirkungen auftreten, entscheidet ein Data Safety Monitoring Board (DSMB), welches unabhängig vom Sponsor ist, dass ein Stopp eingelegt wird", betont der Mediziner. Wendtner möchte aber auch die Möglichkeit nicht ausschließen, dass etwas anderes die Krankheit hervorgerufen haben könnte.
Bessere Kommunikation gewünscht
Sein Marburger Kollege Becker hätte sich jedenfalls mehr Informationen zu dem Fall der britischen Patientin gewünscht. "Jetzt haben sich die Fachleute den Fall etwa eine Woche lang angeschaut und entschieden: Wir lassen die Studie weiterlaufen. Und da hat mir gefehlt, dass man mehr Hintergrund bekommen hätte: Warum geht es jetzt weiter? Wieso ist diese Entscheidung so getroffen worden?"
Becker, der an der Phase-III Studie selbst nicht beteiligt ist, zweifelt jedenfalls nicht daran, dass seine Mediziner-Kollegen ihre Forschung mit der gebotenen Sorgfalt fortsetzen. "Nur versucht man dabei sehr schnell zu sein. Und das ist ja das, was viele wollen. Die einen wollen sich ja nicht impfen lassen - das kann ich auch akzeptieren. Aber für viele ist ein Impfstoff hoffentlich eine gute Möglichkeit, wieder zur Normalität zurückzukehren", sagt Virologe Becker.
Hinweis der Redaktion: Seit der Erstveröffentlichung am 2. Oktober 2020 wurde der Artikel korrigiert und ergänzt. Clemens Arvay legte gegenüber der Redaktion Wert auf die Feststellung, dass er weder "Impfkritiker" noch "Impfgegner" ist. Er kritisiere hingegen das beschleunigte Prüfverfahren bei der Impfstoffentwicklung, die sogenannte "Teleskopierung" der Testphasen. In einem DW-Interview, veröffentlicht am 14. Oktober, beklagt Arvay, dass sogenannte Skeptiker eine Diffamierungskampagne gegen ihn führen. Ferner wurde ein Link zum Artikel des Forschers William A. Haseltine hinzugefügt sowie zu einer Meldung der Fachzeitschrift Nature.