Cum-Ex-Aktiengeschäfte: Steuerbetrug in riesigem Ausmaß?
3. September 2019Das Verfahren, das am Mittwoch am Bonner Landgericht beginnt, ist ein Musterprozess mit Signalwirkung, für den man sich auch im Ausland interessiert. Über 60 Journalisten haben sich angekündigt. Involvierte Banken schicken mehr als 60 Beobachter. Es geht um die Frage: Nutzen Finanzakteure bei sogenannten Cum-Ex-Aktiengeschäften ganz legal Steuerschlupflöcher oder handelt es sich um einen gigantischen Steuerraub?
So ganz klar ist die Antwort darauf nicht. Steuerexperten waren lange der Meinung, bei diesen Geschäften würden lediglich legale Steuerlücken ausgenutzt. Seit einigen Jahren sehen Ermittler und Strafverfolger das aber anders. Sie werfen den Akteuren Steuerhinterziehung vor. Mittels verworrener Hin- und Herschieberei von Aktien sollen sich die Beteiligten vom Staat Kapitalertragssteuern in Milliardenhöhe erstatten lassen haben, die vorher gar nicht gezahlt worden seien. Wenn sie Recht bekommen, werden wohl unzählige weitere Finanzjongleure vor Gericht gebracht werden.
Die zwei Angeklagten bilden wohl nur die Vorhut
Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt ermittelt in zehn Verfahrenskomplexen und hatte 2017 Klage wegen mutmaßlichen Cum-Ex-Betrugs beim Landgericht Wiesbaden eingereicht. Allerdings prüft das Gericht immer noch, ob es die Klage zulässt. Auch die Kölner Staatsanwaltschaft ist den vermeintlichen Tätern auf der Spur. Sie hat beim Bonner Landgericht Klage eingereicht gegen zwei frühere Banker der Hypovereinsbank, die sich später mit einer Investmentfirma auf Cum-Ex-Deals spezialisiert haben sollen.
Die beiden Angeklagten müssen sich ab Mittwoch in Bonn gegen den Vorwurf der besonders schweren Steuerhinterziehung verteidigen, bei der dem Staat ein Schaden von über 440 Millionen Euro entstanden sei. Ihnen droht eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren. Beide haben aber umfassend ausgesagt, andere belastet und erklärt, wie die Geschäfte aufgezogen wurden. Im Gegenzug hoffen sie nun auf ein mildes Urteil. Ihre Offenheit kann vielen anderen zum Verhängnis werden, laut Handelsblatt ermittelt allein die Kölner Staatsanwaltschaft gegen weitere rund 200 Verdächtige.
Der größte Steuerraub aller Zeiten
Der Schaden, um den es bei dem Verfahren in Bonn gehen wird, ist nur ein kleiner Teil von dem, was Deutschland und mindestens zehn andere Staaten in ihren Staatskassen vermissen. Am kräftigsten wurde in Deutschland in die Staatskasse gelangt. Hier hat Christoph Spengel, Steuerexperte der Universität Mannheim, allein für die Jahre 2001 bis 2016 einen Schaden von knapp 32 Milliarden Euro errechnet. In Frankreich soll ein Schaden von mindestens 17 Milliarden Euro, in Italien von 4,5 Milliarden und in Dänemark von 1,7 Milliarden Euro entstanden sein.
Europaweit summiert sich der Schaden auf über 55 Milliarden Euro, wenn man weitere undurchsichtige Steuerkonstruktionen hinzuzählt. Das haben Schätzungen des europäischen Medien-Recherche-Netzwerks "Correctiv" ergeben. Das Netzwerk hatte Ende 2018 den Skandal an die Öffentlichkeit gebracht. 37 Journalisten von 19 Medien aus 12 Ländern Europas hatten an der Recherche mitgewirkt.
Angesichts dieser Dimensionen bezeichnet Spengel gegenüber der "Zeit" die Aktien-Deals als "den größten Steuerraub in der Geschichte Europas".
Banken auf der Anklagebank
Um den Prozess zu bewältigen, wurde am Bonner Gericht eine neue Kammer für Wirtschaftsstrafsachen eingerichtet und die nimmt gleich einige Banken mit ins Visier. Fünf Finanzhäuser, die an den Geschäften mitgewirkt haben sollen, werden sich als Nebenbeteiligte ebenfalls in Bonn verteidigen müssen. Laut Insidern handelt es sich dabei um die Holdinggesellschaft der Hamburger Privatbank M.M. Warburg, deren Tochter Warburg Invest, Fondshäuser der französischen Bank Societe Generale und des US-Instituts BNY Mellon sowie die Hamburger Kapitalverwaltungsgesellschaft Hansainvest.
Der Hintergrund: Ein neuerer Paragraf des Strafgesetzbuches regelt, dass illegal erzielte Gewinne auch von denjenigen einbezogen werden können, die die Tat nicht unmittelbar begangen haben, aber daran beteiligt waren. Als Ausgleich für den mutmaßlich entstandenen Schaden kann das Gericht damit Vermögen von den Banken einziehen.
Wie der Deal lief
Wie die Cum-Ex-Aktiengeschäfte ablaufen, ist nur schwer zu durchschauen. Vor allem nutzten Investoren, dass die Kapitalertragssteuer zu gewissen Stichtagen fällig ist. Rund um den Dividendenstichtag wurden Aktien mit ("cum") und ohne ("ex") Anspruch an eine Dividendenausschüttung zwischen mehreren Beteiligten und über Ländergrenzen hin- und hergeschoben. Das Ziel: Obwohl nur einmal Steuer für die Aktien bezahlt wurde, ließen sich mehrere Beteiligte die Steuer zurückerstatten. Damit zahlte der Staat am Ende Steuern zurück, die zuvor gar nicht abgeführt wurden.
Das System war so schwer zu durchschauen, dass Banker, Anwälte und Investoren sich seit den 1980er Jahren am Staat bereichern konnten. Erstmals gewarnt vor Cum-Ex-Geschäften hatte August Schäfer aus dem hessischen Wirtschaftsministerium. Das war bereits 1992. Aber erst zehn Jahre später, 2012, schob der Gesetzgeber den Cum-Ex-Geschäften einen Riegel vor. Während einige Finanzmarktakteure nun vor Gericht stehen, hat die europäische Finanzmarktaufsicht ESMA Hinweise gefunden, dass andere bis heute Cum-Ex-Geschäfte betreiben - so ein im Juli veröffentlichter Zwischenbericht.
Noch offene Anträge auf Steuererstattung
Während in Bonn das Verfahren beginnt, liegen bei der Bundeszentrale für Steuern noch viele offene Anträge auf Steuererstattung in Millionenhöhe. Aufgrund anhaltender Ermittlungen wurden über 135 Anträge in Höhe von insgesamt 623 Millionen Euro noch nicht entschieden. Das geht aus der Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine Kleine Anfrage der Grünen hervor. Dabei handele es sich um in Prüfung befindliche und noch nicht ausgezahlte Anträge auf Erstattung von Kapitalertragsteuer, teilte das Bundesfinanzministerium mit. Die Anträge reichen bis 2006 zurück. Die weitaus meisten stammen aber aus dem Jahr 2011, kurz bevor das Steuerschlupfloch geschlossen wurde. Auf sie entfallen rund 585 Millionen Euro.
Auch wenn in Bonn 32 Verhandlungstage bis zum 9. Januar angesetzt sind, eine endgültige Antwort auf die Frage "legal oder Straftat" könnte es erst Ende 2020 geben, wenn nach dem Urteil Revision vor dem Bundesgerichtshof eingelegt wird.