Mentale Übung und künstlerische Vision
14. September 2020Er wird als einer der großen Pianisten des noch jungen 21. Jahrhunderts gehandelt. 2011 gewann er - im Alter von 20 Jahren - den legendären Moskauer Tschaikowski-Wettbewerb. Heute ist Daniil Trifonov international bekannt als Klaviervirtuose.
Trifonov, geboren 1991 in der russischen Stadt Nischni Nowgorod, studierte zunächst in Moskau, später am Cleveland Institute of Music in den USA. Heute lebt er in seiner Wahlheimat New York. 2016 wurde der Grammy-Preisträger von der Fachzeitschrift Gramophone zum "Künstler des Jahres" ernannt.
Mit seiner makellosen Fingerfertigkeit entfaltet Trifonov eine singuläre Leidenschaft bei romantischer Musik, widmet sich aber in letzter Zeit auch anderen Stilrichtungen: etwa bei Klavierabenden mit Musik von Johann Sebastian Bach, oder auch jüngst bei den Salzburger Festspielen mit einem Querschnitt aus der Musik des 20. Jahrhunderts. Dort traf er sich mit dem DW-Musikredakteur Rick Fulker.
DW: Im Programmheft Ihres Salzburger Konzerts steht, dass Sie zeigen wollen, wie sich die Musik in den neun Jahrzehnten des 20. Jahrhundert entwickelt hat, von 1900 bis in die 1980er Jahre hinein. Wie kam die Auswahl der Stücke zustande - von Berg bis Corigliano, Bartók und Messiaen?
Daniil Trifonov: Ich habe versucht Stücke zu finden, die die Musiksprache der jeweiligen Dekade am stärksten ausdrücken. Dabei musste sich jedes Stück vom vorhergehenden abheben, denn das Ganze muss auch als Zyklus funktionieren.
Wenn man diesen Rundumschlag zur Musik des 20. Jahrhunderts hört, fällt vor allem die große Vielfalt auf. Was haben diese Werke aber gemeinsan? Oder müssen wir erst 150 oder gar 300 Jahre abwarten, um das Ganze aus der Ferne beurteilen zu können?
Jedes Jahrzehnt hatte seine eigene, radikal neuartige und revolutionäre Klangsprache. Was sie verbindet ist eben ihre Vielfalt.
Wo waren Sie, als es mit dem Corona-Shutdown losging?
An jenem Tag im März sollte ich ein Konzert in Kansas City geben. Auf dem Programm stand die "Kunst der Fuge" von Johann Sebastian Bach. Gegen 11 Uhr morgens bekam ich dann einen Anruf: Alle Veranstaltungen im kompletten Bundesstaat waren abgesagt. Ich war bereits zum Konzertsaal unterwegs und bin dann umgehend nach New York zurückgeflogen. Ich habe dann zwei Monate in der Dominikanischen Republik gelebt, später in einem Haus außerhalb New Yorks. Erst im vergangenen Monat bin ich nach New York City zurückgekehrt.
Wie haben Sie diese fünf Monate verbracht?
Was die Musik betrifft, so habe ich mit großer Lust Stücke wiederentdeckt, die ich zuletzt als Teenager gespielt hatte: Sonaten von Béla Bartók und Mazurken von Frédéric Chopin. Ich habe aber auch neue Werke für die kommende Saison eingeübt, zum Beispiel Beethovens Drittes Klavierkonzert, Brahms' Erstes Klavierkonzert und einzelne Stücke von Brahms, Debussy, Weber und Mussorgski.
Waren Sie die ganze Zeit mit Ihrer Kunst allein?
Einzelne Sommerfestivals in Europa und den Vereinigten Staaten fanden statt, so spielte ich Die Kunst der Fuge von Bach und Bilder einer Ausstellung von Mussorgski bei den US-Festivals in Tanglewood und Aspen. Beim Verbier Festival in Belgien spielte ich zusammen mit Joshua Bell Brahms' Vierte Violinsonate ein und dürfte beim Schostakowitsch Festival in Deutschland einige noch nie aufgenommenen Werke von Dmitri Schostakowitsch vorstellen.
Während der Pandemie haben verschiedene Künstler erzählt, wie sehr sie die Menschen vermissen, die bei einem normalen Livekonzert dabei sind. Spielt das Publikum auch für Sie eine Rolle?
Selbstverständlich. Auch wenn ich eine CD aufnehme, spiele ich einmal vor Publikum, meistens am letzten Produktionstag. Ich habe allerdings festgestellt, dass man sich nach einer längeren Auszeit erst langsam wieder an öffentliche Aufführungen gewöhnen muss. Dann erst wird einem klar, welch ein Segen es ist, auf Tournee zu gehen und regelmäßig auftreten zu dürfen. In diesem Sinne sind wir Künstler ein wenig wie Marionetten. Regelmäßige Auftritte sind sehr vorteilhaft.
Wie haben Sie das Salzburger Publikum wahrgenommen?
Ich konnte deutlich spüren, dass die Leute, die gekommen waren - sowohl Publikum als auch Künstler - wirklich dabei sein wollten, gerade in diesen schwierigen Zeiten. Auch ich bin extra aus den USA angereist, was nicht gerade einfach war.
Manchmal, wenn Sie spielen, höre ich mehr als nur die Noten. Ich nehme Naturgewalten wahr, Farben, sogar Stimmen. Gehen Ihnen solche nichtmusikalischen Dinge durch den Kopf, wenn Sie gerade spielen? Könnten Sie solche Dinge in Worte fassen - oder würden Worte der Musik im Weg stehen?
Es geht um allgemeine seelische Zustände. Manchmal fällt mir eine Geschichte vollkommen spontan ein, etwas völlig Neues. Es kann aber auch außermusikalische Inspirationsquellen geben. Einmal stand die Klaviersonate von Franz Liszt auf dem Programm. Es war bei einem Konzertabend in Dortmund. Am Morgen war ich zu einer Ausstellung mit Gemälden von El Greco gegangen - und später, beim Konzert, merkte ich, dass Grecos Bilderwelt mich während der Liszt-Sonate begleitete.
Sie haben einmal vom "mentalen Üben" gesprochen, das heißt: üben ohne Tastatur - und dass dabei Ideen entstehen, die später mal zur Aufführung gehören. Gibt es dabei eine bestimmte Dramaturgie, wird das dann mehr oder weniger genau geplant und inszeniert?
Manchmal, ja. Meistens will ich bei der Interpretation eine bestimmte Richtung einschlagen. Es kann aber auch spontane Entscheidungen geben. Man möchte alternative Ansätze parat haben, vor allem dann, wenn man mit Orchester spielt. Es wäre ermüdend, oder weniger interessant, ein Stück immer auf die gleiche Art und Weise darzubieten. Je mehr ich ein Stück Musik spiele, desto mehr Abwechslung versuche ich hereinzubringen.
Gibt es bei Ihnen auch musikfreie Tage?
Ja, natürlich. Manchmal schaffe ich es fünf bis sieben Tage nicht zu üben. Das ist wie ein langer Urlaub. Aber an den meisten anderen Tagen wird geübt.
Was steht demnächst an?
Das Coronavirus brachte einige Aufnahmeprojekte zum Stillstand. Im Juni sollte ich einige meiner Lieblingsstücke von Alexander Skrjabin und ein Stück für Klavier und Orchester von Igor Strawinski einspielen. Das konnte nicht realisiert werden. Ich bin aber jetzt froh, ein Album mit Musik von Skrjabin, Strawinski und Prokofjew ankündigen zu können. Es wird im November erscheinen.
Ich habe gelesen, dass Skrjabin für Sie ein sehr wichtiger Komponist ist.
Als ich aufwuchs, war er mein Lieblingskomponist. Wegen seiner Musik habe ich das Klavier überhaupt ernst genommen.
Dass Sie den Zugang zur Klavierwelt über Skrjabin fanden, erscheint mir bemerkenswert, denn als Komponist steht er ziemlich einzigartig in der Landschaft.
Er hat sich stilistisch unglaublich weit entwickelt. Aber was mich am meisten beeindruckt, ist seine authentische Ausdrucksweise. Seine Musik fließt derart natürlich und organisch! Man spürt, dass er nicht etwa versucht, zu komponieren, sondern dass die Musik einfach aus ihm herausfließt - wie Poesie. Überraschenderweise nehme ich auch Mozart so wahr. Stilistisch liegen die beiden zwar Welten auseinander. Aber beiden gemeinsam ist dieser extrem organische Bewusstseinsstrom.
Skrjabin war Synästhetiker: Er konnte Töne sehen und Farben hören. Und er hatte eine große Vision von einem Kunstwerk der Zukunft, bei dem alle Sinne angesprochen werden: auch der Geruchs- und Tastsinn. Und das im frühen 20. Jahrhundert. Ist er damit auch eine tragische Figur? Denn er träumte von völlig unrealisierbaren Dingen. Oder hat er tatsächlich alles erreicht, was er erreichen wollte?
Wahrscheinlich hegte er Zweifel darüber, ob seine Ideen je vollständig realisiert werden können. Aber das Wichtigste für mich ist die Schönheit der Ideen selbst, nicht unbedingt ihre Realisierbarkeit. Wenn wir nur nach Ideen suchten, die tatsächlich umgesetzt werden könnten, wären Ideen langweilig, denn vieles, wovon wir träumen, ist unerreichbar. Darin liegt seine Vision: vollkommene Losgelöstheit jenseits der Funktionalität. Bei Skrjabin geht es um das Sein - und um den Blick jenseits der Realität.
Er wollte mit seiner Kunst sogar die Entwicklung der Menschheit voranbringen...
Das hat mit dem Zeitalter zu tun. In der russischen Kulturgeschichte ist es als Silbernes Zeitalter bekannt und umfasste verschiedene Kunstformen: Poesie, Gemälde und Musik - aber auch Philosophie. In der Kunst gab es verschiedene Stilrichtungen: Symbolismus, Impressionismus. Und im Zentrum standen schöpferische Künstler und Duzende philosophischer Richtungen.
Skrjabin hatte aber nicht Duzende, sondern eine ganz spezifische Richtung.
Ja, Skrjabin war irgendwie auch ein Philosoph.