Das ambitionierte Kino der Berlinale
16. Februar 2006Im Foyer des Kinos Arsenal steht eine Tischtennisplatte - zwischen den Vorstellungen lockern junge Filmfreaks hier bei Loungeklängen ihre ermatteten Sitzmuskeln. An der Bar gibt es Afri-Cola und Cocktails. Nebenan, im Cinestar, wird der erste Festivalbeitrag Ägyptens seit 10 Jahren gefeiert. Der Botschafter ist gekommen und gerät nach der Vorstellung mitsamt seines Security-Trosses in eine schrille Gay-Gemeinde, die auf den Start des Spektakels "18.15 ab Ostkreuz" wartet, eines schrägen Psyeudokrimis um eine vergiftete Perücke und mit den Stars der Berliner Kleinkunstszenerie.
Genaue Beobachtungen
Aber der Botschafter ist in Gedanken noch im Kino, bei dieser mitreißenden, dreistündigen Verfilmung des Romans "The Yacoubian Buildung", die, ausgehend von den Bewohnern eines stolzen Kairoer Eckhauses, in einer Fülle von Geschichten die Historie der letzten 75 Jahre wiederspiegelt. "Die Beobachtung der ägyptischen Charaktere des Schriftstellers Al-Assouani und auch im Film ist sehr realistisch," sagt Adel Imam. Er spielt in dem Film einen reichen Alten, der sich über den Niedergang des Landes mit guten Tropfen und jungen Frauen hinwegzutrösten sucht.
Um ihn herum, in den teuren Wohnungen, haben sich Intriganten, Aufsteiger und Halbkriminelle eingenistet. Oben auf dem Dach frönt eine Parallelgesellschaft ihr ärmliches Dasein: Menschen, die sich mit kleinsten Jobs über Wasser halten, sexuelle Demütigungen hinnehmen müssen und selbst bei besten Noten an der Universität Außenseiter sind. Was einen der jungen Männer, und man meint es nachvollziehen zu können, in die Arme der Islamisten treibt.
Spontanes Kino erlauben
Im Kino Delphi, Reihe 10 außen, sitzen derweil - Gott sei Dank, sie sind wohlauf - wie in all den Vorjahren auch die beiden weißhaarigen alten Damen, die sich erneut 10 Tage lang das neue avantgardistische Weltkino reinziehen. In den Pausen plaudern sie über eine gewisse Elke, über prima Sonderangebote und blättern zwischendurch im Berlinale-Programm. Was kommt jetzt? Aha, Südafrika - Johannesburg als Zufluchtsort von Kriegsflüchtlingen aus aller Welt.
Der Regisseur, Khalo Matabane, ist auch da. "Eigentlich war mein Film als große Produktion geplant, mit Drehbuch und allem was dazugehört," erzählt er. "Und dann hatte ich diese komische Idee, einen Film zu machen, der ganz spontan entsteht. Es gab kein Drehbuch, es gab gar nichts. Niemand wusste, was wir als nächstes filmen würden, ich wusste es nicht, das Team wusste es nicht."
Herausgekommen ist mit "Conversations on a Sunday Afternoon" eine faszinierende Mischung aus dokumentarischen und fiktiven Szenenfolgen, in denen Flüchtlinge - unter anderem aus Somalia, Äthiopien, Korea, Bosnien und dem Gaza-Streifen - erzählen, warum sie ihre Heimat verlassen haben und wie sie diese trotz zumeist guter Lebensbedingungen in Südafrika vermissen. Denn das Land am Kap ist seit dem Ende der Apartheid für Verfolgte in vielen Teilen der Welt zu einem Hoffnungsträger geworden.
Rütteln an Tabus
Es sind diese, um Individuen inszenierten Einblicke in Lebenszusammenhänge überall auf dieser Welt, die nicht nur die beiden alten Damen, sondern ein großes, treues Publikum der Sektionen "Forum des Jungen Films" und "Panorama" zu schätzen weiß. Denn das Spektrum reicht von einer filmischen Reise von der Quelle bis zur Mündung des Kongos über die Geschichte einiger Call-Agents in einem Call-Center in Bombay bis hin zu den Erfahrungen junger Frauen in der israelischen Armee.
Dalia Hager und Vidi Bilu kratzen dabei an einem Tabu. Denn in ihrem Spielfilm "Close to Home" stellen sie die Bedeutung des Militärdienstes für junge Frauen in Frage. Nach der Vorführung wird weiter diskutiert, die Zahl der Wehrdienstverweigerer in Israel nimmt zu, erzählen die beiden Filmemacherinnen. Und wir sind keineswegs die einzigen, die endlich Frieden wollen. Hoffen muss man doch, oder?
"Wir können die Welt nicht verändern", sagt der deutsche Dokumentarfilmer Andres Veiel, "aber zumindest können wir den Blick auf sie schärfen." Im "Panorama" läuft seine filmische Adaption einer soeben für das Theatertreffen ausgewählten Inszenierung: "Der Kick", eine Collage aus Gesprächen, die Veiel im Jahre 2003 nach einem bestialischen, vermeintlich rechtsradikal motivierten Mord an einem Jugendlichen in Brandenburg mit Angehörigen des Opfers, Freunden und Dorfbewohnern geführt hat.