Chinesisches Neujahrsfest
16. Februar 2018Traditioneller Drachentanz, krachende Feuerwerke und ein hoffnungslos überlasteter Bahnverkehr. Wenn ich in Europa meine Freunde frage, was sie über das chinesische Neujahresfest wissen, erhalte ich meist diese drei Antworten. Die mögen stimmen - oder zumindest mal gestimmt haben.
Ein Blick ins Programmheft des chinesischen Kulturzentrums in Berlin verrät, warum der Drachentanz zuerst genannt wird. Er gehört zum festen Bestandteil der Feierlichkeiten um das Frühlingsfest bzw. das chinesische Neujahrsfest. An diesen Tagen kurz vor dem 16. Februar werden am Potsdamer Platz Drachen- und Löwentänze aufgeführt. Für die gut 20.000 in Berlin lebenden Chinesen bedeutet die Feier ein Stück Heimatgefühl. Für die restliche Berliner Bervölkerung sollen die Tänzer mit ihren übertriebenen Kostümen und den ohrenbetäubenden Trommelrythmen als Einführung in die chinesische Neujahrskultur dienen.
Auch in China sind die wogenden Bewegungen des sich windenden Drachens, der von Tänzern an Stangen gehalten wird, oft an bedeutenden Tagen zu erleben, etwa bei Eröffnungsfeiern von Geschäftsfilialen oder Autohäusern. Aber zum Neujahr eher nicht. Denn am Neujahrsvorabend, also dem chinesischen Silvester, hat man viele wichtige Dinge zu erledigen: zum Beispiel mit der vielköpfigen Drei- oder Vier-Generationen-Familie zusammen zu kochen und zu essen und zwischendurch vielleicht noch Raketen anzuzünden. Auch den folgenden Tag, also den 01.01. des Lunarkalenders, verbringen Chinesen normalerweise mit der Familie. Das chinesische Neujahrfest ähnelt dem Weihnachtfest in christlichen Ländern und ist in erster Linie ein Familienfest. Erst einige Tage später starten die Drachentänze und erreichen zwei Wochen später am Laternenfest den Höhepunkt.
"Wie bitte? Jiaozi zum Neujahr?"
Es scheint, als würden einige Traditionen gepflegt, die in China in der Form gar nicht vorhanden sind. So können nicht nur Ausländer eine falsche Vorstellung vom Neujahrsfest bekommen. Auch Chinesen verfügen oft über wenig Kenntnisse, welche Rituale dazu gehören. Ein Beispiel ist das Essen.
Seitdem ich zur Schule gehe, lehrt man mich, dass am Vorabend des Neujahrsfestes Jiaozi gegessen wird, also eine Art Teiggericht, das der Maultasche ähnelt. Zugegeben, Jiaozi ist eigentlich ganz lecker. Doch gelten diese Raviolis zu Unrecht als typisches Neujahrsgericht. Dieses Missverständnis wurde in meiner Schulzeit sogar im Fernsehen weiter verbreitet. Pünktlich zum Silvestermahl wünschten Fernsehmoderatoren im Staatsfernsehen allen Chinesen beim Jiaozi-Essen einen guten Appetit. In meiner Familie hat man noch nie an Silvester Jiaozi gegessen. Als ich klein war, hat mich deshalb die Fernsehansprache äußerst verwirrt, zumal meine Eltern und Großeltern mir eine Antwort gaben, die ich nicht verstand: "Wir leben eben in Shanghai."
China hat viele verschiedene Neujahrstraditionen
Erst Jahre später erfuhr ich, dass das Jiaozi-Essen am Silvesterabend eigentlich nur in Nordchina zur Tradition gehört. Diese Information ist inzwischen auch bei den Fernsehmoderatoren angekommen, die ihren Zuschauer um 19.30 Uhr nun kein leckeres Jiaozi-Mahl mehr wünschen. Vielleicht hat man erkannt, dass China ein großes Land ist, in dem nicht nur eine, sondern viele Traditionen einen Platz haben.
Trotz dieser Offenheit vermissen meine Eltern im Treiben des Neujahrsfests eine gewisse Ernsthaftigkeit. Sie beklagen sich darüber, dass heutzutage dem Frühlingsfest die "Stimmung" abhanden gekommen sei. Meine Eltern wurden Anfang der 1950er Jahre geboren. Sie haben deswegen in China auch die Zeit des "Großen Sprungs" miterlebt, jene fünf Jahre zwischen 1957 bis 1962, in denen Mao Zedong mit aller Gewalt China vom Bauernstaat in eine Industriemacht verwandeln wollte. Im Mai 1966 begann die Kulturrevolution, die meine Eltern ebenfalls miterlebt und miterlitten haben. Der alltägliche Hunger unter streng rationierter Planwirtschaft bleibt genauso fest in ihrer Erinnerung verankert, wie die euphorische Stimmung zum Neujahr, wo sie sich endlich satt essen durften und neue Kleidung bekommen konnten. Heute ist die Wirtschaftsnot verschwunden, die Euphorie allerdings auch.
Verkehrschaos an Neujahr nennt man "Frühlingsfestverkehr"
Um das Neujahrfest spüren zu können, wie es meine Mutter ausdrückt, muss man aber nicht unbedingt eine traumatisierte Kindheit haben. Menschenmassen in Bahnhöfen, astronomisch teure Flugtickets, hoffnungslos verstaute Autobahnen - all dies deutet in China eindeutig darauf hin: Das Neujahrsfest steht vor der Tür. Jeder, der es sich leisten kann, macht sich auf den Weg zur Familie. Das chinesische Verkehrsministerium rechnet in diesem Jahr zwischen dem 01. Februar und dem 12. März mit knapp drei Milliarden Einzel-Reisen. Zum Vergleich: Die Gesamtbevölkerung Chinas beträgt 1,39 Milliarden.
Als meine Eltern noch jung waren, kannten sie solch eine Verkehrslage rund um das Frühlingsfest noch nicht. Erst vor etwa dreißig Jahren, als sich China langsam von der Planwirtschaft verabschiedete und die Reform ihrer Wirtschaft vorantrieb, tauchte der Begriff "Frühlingsfestverkehr" in den Medien auf, der später vom Volksmund scherzhaft "die größte Völkerwanderung in der Geschichte der Menschheit" genannt wird. Damals begannen junge Leute vom Land in großer Zahl als Wanderarbeiter nach Ostchina zu ziehen, wo es bessere Verdienstmöglichkeiten gibt. Sie dürfen aber bis heute ihren Wohnsitz nicht in den Metropolen anmelden, in denen sie arbeiten. Zum Neujahr müssen daher Hunderte Millionen Chinesen nach Hause fahren, also zu ihren zurückgelassenen Kindern und Eltern, und damit bringen sie das Verkehrssystem zum Kollabieren.
Selbst geborene Pekinger oder Shanghaier können zum Neujahr die Folge der unaufhaltbaren, aber unvollständigen Urbanisierung spüren: Plötzlich sind Gemüsehändler, Putzfrauen und Pflegekräfte verschwunden. Und das Leben in den Städten droht zusammenzubrechen. Doch das nehmen die meisten Stadtbewohner schulterzuckend in Kauf.
Beim Neujahrsfest geht es um die Familie
Meine Mutter sagt mittlerweile auch oft diesen Satz, allerdings um mich zu überreden, zum Frühlingsfest n i c h t nach Hause zu fahren. Ihre Argumente lauten: Es gebe sowieso keine Neujahrsstimmung und die Zusammenkunft der Familie müsse nicht unbedingt mitten im Frühlingsfestverkehr stattfinden. Die Familie könne sich eigentlich zu jeder Zeit besuchen. "Es geht doch um die Familie, nicht um das Neujahr!"
Es ist schon zehn Jahre her, dass ich meine Heimatstadt Shanghai verlassen habe. Inzwischen bin ich tatsächlich nur zweimal zum chinesischen Neujahrsfest nach Hause gefahren. Bei dieser Rückkehr habe ich einige Neuerungen des Frühlingsfestes in meiner Heimat kennengelernt. Zum Beispiel ist nun in vielen Metropolen das Feuerwerk verboten, um Brände zu vermeiden und Smog zu verhindern. Auch der Frühlingsfestverkehr ist heute nicht mehr so dramatisch wie vor einigen Jahren - dank des rasant ausgebauten Bahnsystems. Und: Selbst in Shanghai essen heutzutage viele Familien Jiaozi am Vorabend des Neujahres, denn die Wanderungen der Menschen führen zu kulturellen Verschiebungen. Es gibt aber auch Konstanten, die sich wohl nie ändern werden. Dazu gehört ganz sicher der Satz: "Es geht immer um die Familie!"