Das Erbe von Friedrich Wilhelm Raiffeisen
29. März 2018Am 30. März 1818 wurde im beschaulichen Hamm an der Sieg im heutigen Rheinland-Pfalz Friedrich Wilhelm Raiffeisen geboren. Seinen Name tragen auch zwei Jahrhunderte später noch Banken, Museen und Märkte. Seine Idee, sich in der Not zusammenzuschließen, um in Form einer Genossenschaft stärker auftreten zu können, prägte das Wirtschaftsleben. Auch heute noch.
Ein harter Winter - und eine Idee
Eine Schulbildung durfte Raiffeisen nicht genießen - dafür war seine Familie zu arm. Er wird von seiner Mutter erzogen - sein Patenonkel, ein Pfarrer, unterrichtet ihn. Mit 17 Jahren verpflichtet sich Raiffeisen zum militärischen Dienst, muss allerdings nach fünf Jahren ausscheiden, da ihn ein Augenleiden plagt. Er arbeitet in der Verwaltung und arbeitet sich schnell hoch.
Als der junge Raiffeisen 1845 ganz in der Nähe seiner Geburtsstadt Hamm das Amt des Bürgermeisters von Weyerbusch antritt, sind die Zeiten geprägt von Hunger und Armut. Die Bevölkerung des Ortes am Rande des Westerwaldes lebt fast ausschließlich von der Landwirtschaft - und ist arm. Der Winter im Jahr 1846/47 trifft Weyerbusch genauso hart wie den Rest Europas. Missernten lassen die Lebensmittel knapp werden und die Preise steigen. Eine Hungersnot droht.
Viele Bauern können sich noch nicht einmal mehr das Mehl leisten, um Brot zu backen. Aus der Notlage heraus gründet Raiffeisen zusammen mit wohlhabenden Einwohnern der Gemeinde den "Weyerbuscher Brodverein" - der Grundstein des späteren Genossenschaftswesens ist gelegt. Raiffeisen kauft von der Regierung große Mengen Korn, kann so den Preis runterhandeln und gibt es den Bauern gegen Schuldscheine mit niedriger Verzinsung aus. Raiffeisen baut ein Backhaus, stellt einen Bäckergehilfen ein, kauft Kartoffeln und Saatgut. Und sein Plan geht auf: Er kann das Brot günstiger anbieten, eine Hungersnot ist abgewendet. Im nächsten Jahr können die Bauern ihre Schulden dank besserer Ernten abbezahlen.
"Hülfsverein für die unbemittelten Landwirthe"
Auch wenn Raiffeisen Weyerbusch kurz darauf verlässt, um 1848 sein Amt als Bürgermeister im benachbarten Flammersfeld anzutreten - er bleibt ein wichtiger Teil der Genossenschaftsbewegung, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa aufkommt. Armut, Missernten und Viehsterben treiben zu der Zeit viele Bauern in die Arme von Wucherern, die enorm hohe Zinsen für das geliehene Geld verlangen. Raiffeisen überzeugt erneut wohlhabende Familien, in den neu gegründeten "Hülfsverein für die unbemittelten Landwirthe" einzuzahlen, und vergibt so günstige Kredite an die von Armut und Wucherzinsen gebeutelte Bevölkerung.
Anfang der 1860er Jahre erkennt er, dass ein grundlegender Wandel nötig ist. Anstatt sich nur auf reiche Wohltäter zu verlassen, setzt er auf Selbsthilfe. Die Bauern werden nun Mitglieder der neu gegründeten Darlehenskassenvereine und haften solidarisch füreinander. Die Grundlage der Raiffeisenschen Genossenschaften ist gelegt.
Sein Augenleiden holt ihn mit 47 Jahren ein, sein Amt als Bürgermeister muss er aufgeben und schreibt trotz beginnender Erblindung ein Buch. Er diktiert, seine Tochter Amalie tippt. Sein Werk über Darlehnskassenvereine erscheint 1866.
Knapp ein Jahr später wird ein Gesetz in Preußen verabschiedet, das den Genossenschaften eine größere rechtliche Sicherheit bietet. Entworfen hat es Hermann Schulze-Delitzsch, der wie Raiffeisen die genossenschaftliche Idee mitentwickelte und mit dem ersten "Vorschussverein" 1850 den Vorläufer der heutigen Volksbanken gründete.
Eine Idee zieht um die Welt
1888 stirbt Raiffeisen an den Spätfolgen einer Lungenentzündung - die Idee, die er mitprägte, lebt jedoch weiter. Menschen schließen sich in Genossenschaften zusammen, vertreten Ihre wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Interessen mit Hilfe eines gemeinsamen Geschäftsbetriebs. Dessen Ziel ist nicht die Gewinnmaximierung, sondern die Förderung der Mitglieder.
Was es zur Gründung einer Genossenschaft braucht? Erstmal mindestens drei Leute. Und eine Idee. Egal um welche Branche es sich handelt, es gelten drei Grundprinzipien: Selbstversorgung, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung. Es sollen gemeinsame Bedürfnisse gestillt werden, jedes Mitglied hat das gleiche Stimmrecht und haftet mit seinen Geschäftsanteilen.
Vom Fischer bis zum Landwirt
99 Prozent, also beinahe alle Landwirte in Deutschland, sind Mitglieder einer Genossenschaft - und damit auch deren Miteigentümer. Landwirte und Winzer liefern Getreide, Milch, Obst, Trauben und andere Erzeugnisse an die Genossenschaft. Diese verarbeitet und vertreibt die Produkte - die Mitglieder treten geschlossen und damit stärker am Markt auf. Gleiches gilt für die Beschaffung von Betriebsstoffen, seien das Dünger, Futtermittel oder Maschinen, die in der Gemeinschaft günstiger eingekauft werden können. Über den Erlös der verkauften Produkte finanziert sich die Genossenschaft selbst.
In Deutschland sind über 22 Millionen Menschen Mitglied einer Genossenschaft - weltweit sind es eine Milliarde. In Genossenschaften organisieren sich Fischer auf den Malediven, indische Landwirte, afrikanische Kleinunternehmer und Milchbauern aus Uruguay. In den USA versichern Gesundheitsgenossenschaften ihre Mitglieder für den Krankheitsfall, in Japan schließen sich Waldbesitzer zusammen, in Brasilien sind über 70 Prozent der Weizenproduktion genossenschaftlich organisiert und in Afrika vergeben Genossenschaften Mikrokredite an Kleinunternehmer.
Im November 2016 wurde die Idee der Genossenschaften als erster deutscher Beitrag in die UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. Allerdings ist es nicht allein diese Auszeichnung, die das Erbe Raiffeisens lebendig hält. Es sind die Menschen auf der ganzen Welt, die sich zusammenschließen und ihre Kräfte vereinen, um stärker zu sein. Und die Raiffeisens berühmtestes Zitat auch heute noch gelten lassen: "Was einer alleine nicht schafft, das schaffen viele."