Das Gedicht nach der Glocke
18. Juni 2002Tatsächlich ist die Wirkung der über Lautsprecher verlesenen Gedichte auf dem weiten Münsterplatz außergewöhnlich. Viele Passanten bleiben stehen und schauen, woher denn die mächtige Stimme kommt, und hören hin. Die Nachfrage nach den Gedichttexten, die als Fotokopien im Stadthaus auslegen, ist enorm.
Literatursommer Baden-Württemberg
Die Idee zur außergewöhnlichen Gedichtpräsentation, die im übrigen Ulms Beitrag zum "Literatursommer Baden-Württemberg" ist, kam Rudolph durch Erinnerungen an Reisen in islamische Länder. "Zum Literatursommer wollte ich etwas ganz Besonderes haben - nur keine Lesung im traditionellen Stil, bei dem sich zehn ernste Leute um einen Dichter versammeln", sagt sie.
Damit der Gedichtvortrag pünktlich nach dem Glockenschlag beginnt, wurden die Gedichte schon vorher in einem Tonstudio aufgenommen. Zwei professionelle Rezitatoren - Urs M. Fiechtner und Susanne Maier - sprechen die Lyrik. Fünf Gedichte sind außerdem in zwei Sprachen zu hören: Denn während der bis zum 14. Juli dauernden Aktion findet das Internationale Donaufest in Ulm statt. Dazu passend wird Lyrik aus Donauländern wie Serbien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien vorgetragen.
Alternatives Poesie-Album
Klassiker wie Andreas Gryphius, Kurt Tucholsky oder Bertolt Brecht sind ebenfalls zu hören. "Die Gedichte sollen ein Lebensgefühl, eine Lebenshaltung ausdrücken und die Menschen auf dem Münsterplatz direkt ansprechen", erläutert Rudolph. "Wir leben ja in Zeiten, in denen die Lyrik im Elfenbeinturm zu verschwinden droht." Vielleicht gelinge es durch solche Aktionen, auf die Schönheit, die Aktualität und die Aussagekraft der Sprache in Gedichten aufmerksam zu machen.
Bei der Stadt Ulm wird jedenfalls jetzt schon darüber nachgedacht, die Aktion zu wiederholen. Die "Lyrik nach dem Glockenschlag" kann übrigens auch in Buchform wahrgenommen werden: Ab 18. Juni gibt es das "andere Poesie-Album" mit 37 Gedichtkarten und einer CD zu kaufen - darin können die Gedichte, die zur Zeit laut über den Münsterplatz hallen, noch einmal nachgelesen und gehört werden.
Autor: Wim Abbink
Redaktion: Pia Gram