Das Gesicht des Holocaust
12. Juni 2004Hätte der Vater nach dem Krieg nicht das Tagebuch seiner Tochter der Öffentlichkeit zugänglich gemacht - Anne Frank wäre eines von sechs Millionen jüdischen Opfern geworden, deren Existenz ausgelöscht wurde. Doch die Veröffentlichung hob das Mädchen aus der anonymen Masse heraus. 1947 erstmals publiziert, wurde "Das Tagebuch der Anne Frank" bis heute mehr als 25 Millionen Mal verkauft und ist in mehr als 50 Sprachen übersetzt. 1959 wurde auf Basis des Tagebuchs ein Kinofilm gedreht. Der Film erhielt drei Oscars, für fünf weitere war er nominiert. Es gibt einen japanischen Zeichentrickfilm und ein Theaterstück - und das Versteck der Familie Frank, das heutige Anne-Frank-Huis in Amsterdam, ist das meist besuchte Holocaust-Museum weltweit. Im letzten Jahr wurde mit über 900.000 Besuchern ein neuer Besucherrekord aufgestellt.
Den Ermordeten ein Gesicht
In Anne Franks Tagebuch breitet sich bis heute vor dem Leser die gedankliche und emotionale Welt eines jungen Mädchens aus, das, kurz nachdem es die Worte aufgezeichnet hatte, ins Konzentrationslager abtransportiert wurde. "Es ist ein Einzelschicksal, das dieser schrecklichen Zahl der Ermordeten ein Gesicht gab. Anne Frank ist damit ein Symbol geworden", sagt Thomas Heppener, Mitarbeiter des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam
Zwei Jahre lang, zwischen 1942 und 1944, vertraute das Mädchen dem Tagebuch seine persönlichen Fragen und Probleme an. Das Buch ist ein Dokument, wie eine jüdische Familie während der Verfolgung ums nackte Überleben kämpfte.
1933, im Jahr von Hitlers Machtantritt, verließ die Familie Deutschland. In Amsterdam gründete der Vater, Otto Frank, eine Firma, und während der nächsten Jahre konnten die Franks ein relativ normales Leben führen. Doch das änderte sich schlagartig, als die Deutschen im Jahr 1940 die Niederlande besetzten. Die antijüdischen Maßnahmen begannen nun auch dort. Als die Schwester Margot einen Aufruf bekam, sich für den Arbeitseinsatz im Osten zu melden, beschloss die Familie unterzutauchen.
Die Familie versteckte sich in leer stehenden Räumen von Otto Franks Betrieb. Während in den Büro- und Lagerräumen weiter gearbeitet wurde, lebten die Franks und eine befreundete Familie im Hinterhaus. Eine Treppe verband die beiden Häuser miteinander, deren Aufgang ins geheime Hinterhaus versteckt wurde: Davor montierte man ein schwenkbares Bücherregal, das wie eine Tür funktionierte.
Anne und Kitty
In dieser Zeit wird das Tagebuch für Anne zur besten Freundin - sie nennt es Kitty. Sie erzählt dem Buch ihre Ideen und Wünsche und schildert die Alltags-Streitereien. Aber auch die Nächte qualvoller Angst, wenn ein Bombenhagel auf Amsterdam fiel oder wenn sich tagsüber fremde Menschen in den Büroräumen aufhielten und die Untergetauchten in ihrem Versteck stundelang keinen Laut von sich geben durften.
Im August 1944 aber wurde die Familie verraten. Von wem, ist bis heute unklar. Fest steht: Wenig später tauchte die SS im Versteck auf. Die Franks werden in ein Arbeitslager in den Niederlanden gebracht, später in einem Güterwaggon nach Auschwitz und von dort nach Bergen-Belsen transportiert. Im März 1945, nur wenige Wochen vor der Befreiung, sterben Anne und ihre Schwester Margot an Typhus. Von den acht Untergetauchten überlebt einzig der Vater den Holocaust.
Gekürzt - um deutschfeindliche Passagen
Und er ist es auch, der 1947 das Tagebuch seiner Tochter veröffentlicht. Schnell wächst das Interesse an dem Tagebuch - und es beginnen Anschuldigungen. Die Echtheit wurde bezweifelt - und tatsächlich dauerte es einige Jahre, bis eine authentische Version veröffentlich wurde. "Zuvor waren deutschfeindliche Passagen herausgekürzt worden", sagt Nicolas Berg vom Leipziger Simon-Dubnow-Institut für deutsch-jüdische Geschichte - man glaubte sie der deutschen Leserschaft nicht zumuten zu können. 1981 bescheinigte ein staatliches niederländisches Gutachten aber endgültig die Authentizität des Tagebuches.
Bis heute hat das Tagebuch der Anne Frank nichts an Bedeutung verloren. Es ist nicht nur ein Symbol für die sechs Millionen ermordeten Juden, sondern es ist auch "das Dokument eines Mädchens mit den Problemen, die Heranwachsende in dieser Zeit haben", so Heppener. Der Entdeckung der körperlichen Entwicklung etwa oder der Liebe. "Gerade junge Frauen können sich sehr stark mit dieser Lebensgeschichte identifizieren, weil es Fragen sind, die Jugendliche auch heute noch haben."
Verstehen durch Identifikation
Die Identifikation mit Anne Frank erleichtert jungen Menschen, so glaubt Thomas Heppener, den Einstieg in die Beschäftigung mit dem Holocaust. Dass ein junges Mädchen mit Gefühlen und Gedanken, die junge Menschen auch heute haben und deshalb gut kennen, in der Todesmaschinerie der Nazis ums Leben kam, das lässt viele erst die grausame Wirklichkeit des Holocaust begreifen.