Das "goldene Händchen" des Jesse Marsch
2. Oktober 2021Lange Zeit war das Spiel der Leipziger eine Partie des "hätte, wäre, wenn". Hätte der Schiedsrichter den Elfmeter nach Videobeweis nicht doch zurückgenommen, wäre Yussuf Poulsen nicht der eine oder anderen Ball bei der Annahme versprungen. Und wenn da nicht immer wieder dieser bärenstarke Bochumer Torhüter Manuel Riemann dem Erfolg im Weg gestanden hätte…
"Im Moment fällt uns einfach nichts leicht", analysierte RB-Trainer Jesse Marsch nach der Partie und ließ ein wenig amerikanisch-klischeehaft folgen: "Aber egal! Wir kämpfen weiter, wir bleiben stark." Zu diesem Zeitpunkt war Marsch entspannt, schließlich hatte seine Mannschaft gegen den VfL Bochum mit 3:0 gewonnen. Zuvor hatte der US-Amerikaner von außen mit ansehen müssen, wie sein Team gegen den Aufsteiger zunächst hoch überlegen war, dann aber – nachdem es wieder und wieder mit der Führung nicht klappen wollte - langsam ungeduldig und dadurch nicht besser wurde. Also wechselte er mit Dominik Szoboszlai und André Silva zwei neue Offensivkräfte ein und gab er der Partie die entscheidende Wendung.
Nur 42 Sekunden nach der Einwechslung trat Szoboszlai eine Ecke, die Silva zum erlösenden 1:0 verwandelte. Nur Minuten später stand es 3:0, das Spiel war entschieden. "Ich glaube, es hat geholfen, dass ich immer an mich geglaubt habe", sagte der Torschütze, der keine 180 Sekunden nach seinem Treffer das 2:0 vorbereitete. "Wir haben gut angefangen, mit vielen Chancen, danach waren wir etwas ungeduldig, aber wir haben nie aufgegeben." "Ich hatte vorher noch ein Gespräch mit André", sagte Marsch, bei dem Silva -nachdem er die ersten fünf Saisonspiele von Anfang an gemacht hatte, nur noch Joker war. "Ich habe ihm gesagt: Bleib stark, ich glaube an dich!"
Mintzlaff: "Sind weiterhin überzeugt von Jesse"
Zwar waren Freude und Erleichterung groß bei den Leipzigern, jedoch kann auch das deutliche 3:0 nicht übertünchen, dass bei Leipzig Vieles noch nicht stimmt. Zur Halbzeit hallten Pfiffe durch die Arena, eine Unmutsäußerung die man vom begeisterungsfähigen Leipziger Publikum normalerweise nicht hört. Doch nach zuvor drei Niederlagen in sechs Ligaspielen, dazu den beiden Pleiten und dem früh drohenden Aus in der Champions League, war der Geduldsfaden der Zuschauer nach 45 Minuten mit vielen untauglichen Abschlussversuchen der RB-Spieler etlichen Beispielen für schwachen und ideenlosen Spielaufbau deutlich angespannt.
RB-Vorstandschef Oliver Mintzlaff sah sich schon vor dem Spiel, als die 1:2-Niederlage gegen den FC Brügge noch einmal thematisiert wurde, genötigt, seinem Trainer den Rücken zu stärken. "Wir sind weiter völlig davon überzeugt, dass der Weg mit Jesse, den wir eingeschlagen haben, der richtige ist", sagte Mintzlaff, gab aber auch zu: "Wir sind sehr, sehr unzufrieden mit der Ausbeute und der nicht vorhandenen Konstanz."
Systemumstellung funktioniert noch nicht
Mintzlaff verwies auf den großen Umbruch im Team. In der Tat fehlen mit den beiden Neu-Münchnern Dayot Upamecano und Marcel Sabitzer zwei wichtige Bausteine, doch sind ansonsten sehr viele, hochtalentierte Spieler weiterhin an Bord, die meisten von ihnen nicht erst seit diesem Sommer. Tatsächlich hat Leipzig einen der breitesten Kader der Liga. Viel stärker ins Gewicht als die Abgänge auf Spielerseite scheint daher der Verlust von Julian Nagelsmann zu wiegen, beziehungsweise der Systemwechsel, der mit der Übernahme durch Marsch verbunden war.
Statt wie Nagelsmann auf Ballbesitzfußball zu setzen, will der US-Amerikaner vor allem hohes Pressing und schnelles Umschaltspiel sehen. Ganz funktioniert die Umstellung noch nicht. Die drei Siege in der Bundesliga gelangen gegen Stuttgart, Hertha und nun Bochum, alles kleinere Kaliber als die Leipziger. Gegen Wolfsburg und vor allem die Bayern war RB dagegen ohne wirkliche Chance. Gut für Marsch, dass er wegen der Länderspielpause nun zwei Wochen Zeit hat, mit seinen Spielern weiter zu üben.
Vielleicht sollte er auch die eine oder andere Einheit mit Standardsituationen auf den Trainingsplan setzen. Nicht erst seit der WM 2014 und dem damaligen Co-Trainer Hansi Flick weiß man, dass gute Eckbälle und Freistöße viele andere Defizite ausgleichen können. Seit dem 42-Sekunden-Tor von Szoboszlai und Silva gegen Bochum sollte auch Jesse Marsch es wissen.