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Das Happy End

Joscha Weber (aus Rio de Janeiro)21. August 2016

Ganz Brasilien wollte diese eine Medaille: Gold im Nationalsport Fußball. Gegen die tapfere Gegenwehr einer jungen deutschen Mannschaft holt die Selecao den ersehnten Olympiasieg, weil ihr Star den Unterschied macht.

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Olympia Rio 16 20 08 Fußball Deutschland Brasilien Finale Elfmeterschießen
Bild: Reuters/B. Kelly

Timo Horn ist zwar erst 23 Jahre jung, hat aber bereits die Erfahrung von immerhin 66 Bundesligaspielen. Doch so etwas wird er in seiner Sportlerlaufbahn noch nicht erlebt haben. Hinter ihm steht eine gelbe Wand. Mit ohrenbetäubendem Lärm schreien ihm die brasilianischen Fans in den Rücken, sie singen, pfeifen was das Zeug hält. Die üblichen Kommandos an seine Vorderleute kann er sich eigentlich sparen, die hört nämlich keiner. Die Atmosphäre im Maracana ist gewaltig und mit bisher keiner olympischen Veranstaltung in Rio zu vergleichen.

Schon vor dem Anpfiff ist die Begeisterung so groß, dass die Brasilianer einfach weitersingen, als die deutsche Hymne schon läuft, eigentlich ein Unding. Doch man mag es ihnen verzeihen. Die Freude auf dieses Spiel ist in der Arena förmlich zu greifen. Brasilien will diese eine Goldmedaille unbedingt - natürlich auch als Wiedergutmachung für die nationale Schande des 1:7 gegen Deutschland bei der WM 2014.

Erst mal Ruhe reinbringen

Als der Anpfiff dann endlich ertönt, versteht man sein eigenes Wort kaum noch. Jeder Ballkontakt der Deutschen wird von Pfiffen begleitet, die brasilianische Elf dagegen mit voller Stimmkraft nach vorne geschrien. Die junge DFB-Elf antwortet auf all das in den ersten Minuten mit einer erstaunlichen Gelassenheit: Der Ball läuft erstmal ruhig durch die eigenen Reihen, sichere Pässe, kein Risiko, Ruhe reinbringen. "Ich haben ihnen gesagt: Es ist Euer Stadion", so Trainer Horst Hrubesch. Eine gewagte These, aber was der Auswahltrainer damit meinte, war: Lasst Euch nicht beeindrucken. Und das gelingt den Hrubesch-Jungs ziemlich gut. Entweder rennt sich Neymar fest oder seinen Offensivkollegen Gabriel Jesus und Luan misslingt der letzte Pass. Die deutsche Abwehr steht exzellent.

Mehr noch, ihr gelingt sogar fast die Führung: Serge Gnabry dribbelt sich an der linken Außenlinie frei und legt zurück auf Julian Brandt und der Leverkusener fackelt aus 18 Metern nicht lange. Sein Schuss aufs lange Eck prallt auf die Latte - Zentimeter fehlen zum GAU für das brasilianische Elf (10. Minute). Die Heimmannschaft wirkt davon wie aufgeschreckt. Gold soll, nein, muss her in diesem Spiel und nun erhöhen die Gelb-Blauen den Druck auf die DFB-Elf. Neymar bringt Douglas Santos ins Spiel, der flankt in die Mitte, wo Luan ziemlich unbedrängt steht und abzieht. Niklas Süle klärt die Situation aber per Kopf (14.). Auch eine Ecke von Neymar fünf Minuten später offenbart leichte Zuordnungsprobleme in der deutschen Defensive, bleibt aber folgenlos.

Neymar, das Scharnier des brasilianischen Spiels

Viel läuft im brasilianischen Spiel über Superstar Neymar, auch der nächste Angriff, bei dem ihm Bender zu viel Platz lässt und ein taktisches Foul nötig macht. Freistoß von halblinker Position, 28 Meter bis zum Tor. Neymar versuchts, wer sonst. Er läuft an und zirkelt den Ball in den linken Winkel - besser geht es nicht, ein unglaublicher Freistoß (27.). Das Maracana explodiert. Ihr Superstar erlöst die Brasilianer und die feiern ihn mit "Neeymaaar, Neeymaaar"-Gesängen. Die Stimmung kocht über. Auch auf dem Platz, wo Gnabry und Gabriel Jesus aneinander geraten, Schiedsrichter Alireza Faghani muss die Streithähne auseinander dividieren, belässt es aber bei Ermahnungen.

Neymar (l.) und der brasiliansiche National-Keeper Weverton (r.) jubeln (Foto: Reuters/M. Sezer)
Superstar Neymar und der brasiliansiche National-Keeper Weverton (r.) können ihr Glück kaum fassenBild: Reuters/M. Sezer

Hrubesch lässt seine Mannschaft wie angekündigt weiter nach vorne spielen. Und plötzlich ist der Ausgleich greifbar nah: Erst trifft ein abgefälschter Freistoß von Maximilian Meyer die Latte (31.) und vier Minuten später wackelt der Querbalken des brasilianischen Tors erneut: Lars Bender setzt seinen Kopfball ein paar Zentimeter zu hoch an. Drei Mal Latte in einer Halbzeit - das war zu viel des Schlechten.

Meyer lässt das Maracana verstummen

Doch Hrubsch setzt weiter auf Geduld und sein bewährtes Spielsystem. Seine Olympia-Auswahl zeigt sich immer noch unbeeindruckt von der Kulisse und schaltet immer wieder in den Vorwärtsgang. "Wir wussten, dass wir kicken können und wussten, dass wir unsere Chance in der zweiten Halbzeit bekommen werden", so der 65-jährige Trainer in seinem letzten Spiel an der Seitenlinie. "Selbstbestimmten Fußball" nennt Hrubesch seinen Ansatz und der macht Eindruck auf die Gastgeber. Die Brasilianer zeigen plötzlich erste Konzentrationsschwächen: Ungenauigkeiten im Spielaufbau führen immer wieder zum Ballbesitz für die DFB-Elf. Jeremy Toljan nutzt in der 59. Minute den freien Raum auf der rechten Seite und flankt in die Mitte auf Meyer, der völlig freistehend aus elf Metern abzieht und zum 1:1 trifft. Das Maracana verstummt.

Richtig laut wird die Arena im Herzen von Rio erst wieder in der 78. Minute, als Brasilien eine Doppelchance vergibt: Erst der eingewechselte Felipe Anderson frei vor Horn, dann Neymar mit einem Distanzschuss. Die Selecao drückt in der Schlussphase auf den Führungstreffer. Und auch danach versuchen die Brasilianer den Druck hochzuhalten, die deutsche Mannschaft kommt kaum noch zu Entlastungsangriffen, schafft es aber mit taktischer Disziplin und weiter gutem Stellungsspiel in die Verlängerung.

"Es muss einen Doofen geben und der war ich"

Brasiliens Torhüter Weverton (r.) hält den Elfmeter von Nils Petersen (l.) (Foto: Reuters/L. Foeger)
Keeper Weverton (r.) hält den Elfmeter von Nils PetersenBild: Reuters/L. Foeger

Dort angekommen, steht die deutsche Elf erstaunlich hoch und rennt damit wiederholt in Konter. Den brenzligsten davon bekommt der freistehende Luan auf den Fuß, steht alleine vor Horn, doch er legt sich den Ball so lange vom einen auf den anderen Fuß, bis die deutschen Verteidiger mit vereinten Kräften klären können (96.). Daraufhin zieht sich die DFB-Elf zurück und ließ Brasilien mehr und mehr Raum. Den nutzt Neymar mit einem genialen Pass auf Felipe Anderson, der allein auf Horn zurennt - doch der Kölner Torhüter rettet mit einem überragenden Reflex (106.). Kurz vor dem Ende der Verlängerung ist es dann Lars Bender, der sich mit einer Grätsche im letzten Moment in den Schuss von Rafael Alcantara wirft und so Deutschland im Spiel hält. Die Mannschaft wirkte müde in dieser Phase und Hrubesch bestätigte diesen Eindruck später.

Und dann: Abpfiff und Elfmeterschießen. Was für ein Krimi: Vier Schützen treffen jeweils sicher. Dann schnappt sich Petersen den Ball, läuft an und scheitert an Torwart Weverton - Extase im Maracana. "Es muss einen Doofen geben und der war heute ich. Aber natürlich bin ich total enttäuscht", sagte Nils Petersen, der verriet, dass das deutsche Team Elfmeter gar nicht trainiert hat. Vielleicht der entscheidende Fehler in einem sonst perfekten Turnier der DFB-Elf. Denn der letzte Schütze heißt Neymar. Und im Stadion zweifelt niemand an ihm, als er sich den Ball zurecht legt. Er ist die Seele des brasilianischen Spiels, wer sonst sollte den Traum von Gold wahr werden lassen. Ein kurzer, leicht unterbrochener Anlauf, dann schießt er - und trifft. Der Rest ist grenzenloser Jubel. Neymar macht an diesem Abend den kleinen, aber feinem Unterschied.