"Das hier ist eine Zäsur!"
21. November 2018Es dauert an diesem Mittwoch im Bundestag geschlagene 45 Minuten, bis endlich mal ein Redner ausspricht, was das Besondere ist an dieser Debatte. "Das hier ist eine Zäsur", sagt Christian Lindner, der Vorsitzende der oppositionellen Liberalen von der FDP. Und bei diesen Worten wendet sich Lindner zur Regierungsbank.
Tatsächlich: Da sitzt die Bundeskanzlerin, die zum ersten Mal im Bundestag das Wort ergreift, nachdem feststeht, dass sie im Dezember auf dem Parteitag ihrer konservativen Partei CDU den Vorsitz abgibt - nach 18 Jahren. Und zwei Plätze neben ihr sitzt Bundesinnenminister Horst Seehofer von der bayerischen CDU-Schwesterpartei CSU, der auch nur noch bis zum Januar Vorsitzender seiner Partei sein wird. "Wenn die Parteien so auf Distanz gehen zur Regierung, die sie stellen, dann weist das auch für diese Regierung auf das Ende hin", ruft Lindner den beiden entgegen.
Die SPD-Chefin redet, kaum einer hört zu.
Das ist wohl wahr und überall im Bundestag zu spüren: Etwas geht zu Ende. Noch nicht jetzt, nicht sofort, aber doch wohl bald. Da ist zum Beispiel Andrea Nahles, die Vorsitzende der dritten Regierungspartei SPD. Sie setzt sich in ihrer Rede für mehr europäische Zusammenarbeit auf allen Feldern ein und erneuert ihre Forderung nach einer europäischen Arbeitslosenversicherung. Keine Hand regt sich da zum Applaus bei CDU und CSU, denn die lehnen diese Nahles-Idee ab. Und dann hält die SPD-Chefin ein leidenschaftliches Plädoyer für eine internationale Besteuerung großer Digital-Konzerne. Dumm nur, dass ihr Parteikollege, Finanzminister Olaf Scholz, dagegen ist. Und während Nahles all das sagt, scheint auf der Regierungsbank niemand zuzuhören. Merkel spricht minutenlang mit Seehofer. Zwischen den beiden sitzt Scholz, der so freundlich ist, sich zurückzulehnen, damit Kanzlerin und Innenminister sich auch verstehen. Interessiert blickt Scholz mal zu Merkel, mal zu Seehofer. Nahles ignoriert er völlig.
Merkel wirbt für internationale Lösungen
Zuvor hat die Bundeskanzlerin fast 30 Minuten gesprochen, für ihre Verhältnisse mit viel Leidenschaft. Merkel und ihre Auftritte im Bundestag: Das ist halt so eine Sache. Das ist am Anfang ihrer Rede auch jetzt so: Merkel spricht über die Digitalisierung und dass Deutschland da besser werden muss, über künstliche Intelligenz. Mühsam bleiben die Abgeordneten wach. Aber dann geht es um den internationalen Zusammenhang, um globale Fragen, um Migration und Klimaschutz. Und um die EU. Am Wochenende wird der Brexit aller Wahrscheinlichkeit nach auf einem EU-Gipfel abgesegnet. "Das macht mich immer noch traurig", sagt Merkel.
Aber dann wirbt sie leidenschaftlich für die globale Kooperation, gerade jetzt. "Wer das nicht sieht und nur an das eigene Land denkt, ist kein Patriot, sondern ein Nationalist", ruft Merkel in Richtung der Rechts-Populisten von der AfD. Und sie sagt noch einmal zu, dass Deutschland zum UN-Migrations-Pakt steht. Anders als die USA, anders als Österreich und einige osteuropäische Länder. Da lohnt dann wieder ein Blick auf die Regierungsbank. Angestrengt schaut Gesundheitsminister Jens Spahn bei diesen Worten seiner Chefin an die Decke des Plenarsaals. Spahn sieht die deutsche Zustimmung kritisch. Und er ist einer der namhaften CDU-Politiker, die sich auf dem Parteitag für die Nachfolge von Merkel bewerben. Baustellen, Streit und Meinungsverschiedenheiten, wohin man sieht. Eine von sich entfremdete Regierung hat Deutschland gerade.
Wie immer: Harte Verbalattacken von den Rechtspopulisten
Begonnen hat die Debatte zum Haushalt wie immer traditionell mit der stärksten Oppositions-Fraktion, der AfD. Alice Weidel, die Fraktionschefin, teilt kräftig aus - vor allem gegen Merkel. Daran hat sich der Bundestag längst gewöhnt.
"Bei Ihnen kommen die Interessen der deutschen Bürger immer an letzter Stelle", ruft Weidel. "Frauen und Mädchen können sich nicht mehr auf die Straße trauen, wegen der vielen sogenannten Schutzsuchenden!", Asylbewerbern also, Migranten. Und weiter: "Sie wirtschaften das Land herunter zu einem klimaneutralen Agrarland!" Nicht wenige in der AfD bezweifeln, dass es den Klimawandel überhaupt gibt.
Mit Aggression vom eigenen Spendenskandal ablenken
Aber Weidel äußert sich auch zu dem Spendenskandal, den sie selbst gerade ausgelöst hat: "Wir haben Fehler gemacht", sagt sie. Weidels AfD-Kreisverband hat zwei dubiose Spenden aus dem Ausland bekommen, zumindest eine aus dem Nicht-EU-Ausland, was verboten ist. Beide hat die AfD später zwar rücküberwiesen, aber Weidel steht trotzdem massiv unter Druck, auch innerhalb ihrer Partei. Sie setzt wie immer voller Aggression zur Vorwärtsverteidigung an. Minutenlang listet sie die Spendenskandale der verhassten "etablierten" Parteien aus vielen Jahrzehnten auf. Das hat zwar nichts mit dem Haushalt oder der allgemeinen politischen Lage zu tun, die immer in solchen Generaldebatten wie an diesem Mittwoch Thema sind, aber egal. So ist das bei den Rechtspopulisten.
Ein entspannter Merkel-Satz
Immerhin sorgt die Tirade von Weidel dann für einen dieser berühmten kurzen Sätze der Kanzlerin, mit denen sie noch jeder Krise, jeder Hysterie und jeder Zumutung die Stirn geboten hat: Als Weidel erschöpft von all den Beschimpfungen in ihrer eigenen Rede wieder auf ihren Platz sitzt und Merkel ihre Rede beginnt, sagt die Kanzlerin schlicht: "Das Schöne an freiheitlichen Debatten ist, dass jeder über das spricht, was er für das Land für wichtig hält." Der ganze Bundestag mit Ausnahme der AfD spendet begeistert Beifall - an diesem Tag, an dem doch schon so etwas wie Abschiedsstimmung vor allem über der Regierungsbank liegt.