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Das Ich als Kunstwerk: vom Selbstporträt zum Selfie

Sabine Oelze6. November 2015

Die Welt im Selfie-Rausch: Jeden Tag fotografieren Millionen von Menschen sich selbst und posten die Bilder im Netz. Selbstporträts sind an sich kein neues Phänomen. Doch es gibt einen Unterschied zu früher.

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Selbstporträt von Rembrandt (Foto: Sean Gallup/Getty Images)
Bild: Getty Images

Rembrandt Harmensz. van Rijn (1606-1669) war sich selbst das liebste Modell. Er malte sich immer wieder, öfter als alle Künstler vor ihm. 80 Selbstporträts entstanden in rund 40 Jahren. Rembrandt malte sich beim Malen, er malte sich als Fürst oder er schlüpft in die Rolle des Apostels Paulus: Mit dem aufgeschlagenen Manuskript des Evangeliums vor sich blickt er seitlich aus dem Gemälde hinaus.

Branding - Aufbau einer Marke

Gregor Weber, Kunsthistoriker und Rembrandt-Experte am Rijksmuseum in Amsterdam, hat Rembrandts Selbstporträts einen eigenen Saal gewidmet - in einer Ausstellung über das Spätwerk des Künstlers. "Ein Käufer bekam nicht nur ein Gemälde von Rembrandt, er bekam auch noch eins mit einem Konterfei des berühmten Meisters." Das Selbstporträt ist so etwas wie die Philosophie des Malers: Es zeigt Schönheit und Verfall des Körpers, aber auch die Beherrschung der Kunst, ihn darzustellen.

Rund 250 Jahre später hat der Niederländer Vincent van Gogh ein anderes Verständnis von einem Selbstporträt als sein Landsmann Rembrandt. Er, der zu Lebzeiten nur ein einziges Gemälde verkauft hat, arbeitete nicht am Branding. Van Gogh lebte noch in Nuenen bei seinen Eltern, als er eines Tages auf dem Schulweg am Grab seines Bruders vorbei ging. Auf dem Grabstein stand: Vincent van Gogh. Die Eltern hatten ihm denselben Vornamen gegeben wie seinem vor seiner Geburt verstorbenen Bruder. In den 35 Selbstporträts, die van Gogh von sich anfertigte, stellt er die Frage: Wer bin ich? Aber anders als bei Rembrandt ist diese Frage selbstzerstörerisch und voller Zweifel.

Frau macht mit einem Handy ein Foto von einem gemalten Selbstporträt (Foto: imago/CHROMORANGE)
Porträt-Foto vom SelbstporträtBild: Imago

Auf der Suche nach dem Ich

Im Zeitalter der Selfie-Manie des Digitalzeitalters gilt es überall, das eigene Leben festzuhalten. Dieser Trend hat im Jahr 2014 25 Millionen Deutsche erfasst. "Aus dem 'Ich denke, also bin ich' ist ein 'Ich fotografiere, ich dokumentiere, also bin ich' geworden", schreibt Alain Bieber, Kurator der Ausstellung "Ego-Update. Die Zukunft der digitalen Identität" im NRW-Forum in Düsseldorf. In seiner Ausstellung erforscht er, wie sich die Gretchenfrage des Menschseins, "Wer sind wir?", unter dem Einfluss digitaler Medien verändert hat. "Die Frage nach der eigenen Identität ist eine Grundfrage der Menschheit, die sich immer schon in gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Ausdrucksformen materialisiert hat", so Bieber.

Zeitalter des Selfies

In der von Bieber kuratierten Ausstellung kann sich der Besucher im Stil des Fotokünstlers Martin Parr ablichten lassen. Der britische Magnum-Fotograf lässt sich gerne auf seinen Reisen in lokalen Fotostudios porträtieren. Das Spiel mit der Maske ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein wichtiges Thema in der Kunst, wenn es um das Selbstporträt geht. Max Beckmann malte sich als Clown, Ernst Ludwig Kirchner als Trinker, als Kranker oder als Soldat, James Ensor als Jesus, weil er sich verkannt und ausgestoßen fühlte - genau wie sein Kollege Paul Gauguin. Bei Cindy Sherman ist das Spiel mit den Rollen ein Markenzeichen. Die US-amerikanische Fotokünstlerin hinterfragt mit ihren Selbstinszenierungen als Filmstar Marilyn Monroe, laszive Prinzessin oder Teenagerin die Konstruktion von weiblicher Identität.

Selbstbild als Grundzug des Menschen

Ob mit Pinsel oder mit Smartphone: Die Beschäftigung mit sich selbst, ist so alt wie die Menschen. Pia Müller-Tamm, Direktorin und Projektleiterin der Ausstellung "Ich bin hier" in Karlsruhe, ist der Meinung, dass ein "Museum das Thema nicht kulturpessimistisch ausblenden darf." Sie spricht davon, dass die "moderne Mitteilungssucht ein Grundzug des Menschen ist." Im 19. Jahrhundert mussten sich die Fotografen noch kompliziert mit einem Spiegel behelfen. In der Ausstellung "Ich bin hier" (31.10.2015 - 31.01.2016) ist zu sehen, dass das Selbstporträt heutzutage einfacher aufzunehmen ist: in Form von Selfies von Ai Weiwei zum Beispiel. Der chinesische Dissident, der seit ein paar Monaten in Deutschland lebt, ist einer der ersten, der das Smartphone-Selfie als künstlerisches Medium genutzt hat. Eine Selfie-Ikone ist das Foto vom 12. August 2009, das den Augenblick dokumentiert, in dem Polizisten ihn vorübergehend festnehmen.

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Ai Weiwei fotografiert, wie er 2009 von der Polizei abgeführt wirdBild: Ai Weiwei

Eine perfekte Komposition: Ai Weiwei im Zentrum - der flammende Blitz macht ihn zu einer Lichtgestalt. "Unwillkürlich denkt man an Christusdarstellungen und Heiligenbilder: Der bärtige Ai Weiwei in seinem blutroten zerrissenen T-Shirt erscheint wie ein moderner Märtyrer." Auch das Selbstporträt, das nach seiner Kopfoperation in einem Münchner Krankenhaus aufgenommen hat ist genau komponiert. Ai Weiwei dokumentiert entscheidende Momente seines Lebens mit dem Smartphone. Wer ihm auf Twitter folgt, meint ihn gut zu kennen und an seinem Gesichtsausdruck ablesen zu können, wie es ihm geht. Er setzt das Selfie gezielt und sehr wirksam als politische Botschaft ein.

Der chinesischer Künstler Ai Weiwei im Krankenhaus in München 2009 (Foto: dpa)
Ai Weiwei: Selfie aus dem KrankenhausBild: picture alliance/dpa

"Wer will oder soll ich sein?"

Wenngleich der Aufwand von Rembrandt, Picasso oder Beckmann ungleich größer war, haben die Selfies, wie sie die sozialen Netzwerke überschwemmen, einige Ähnlichkeiten mit denen der Kunstgeschichte: zu sehen ist nur der Torso. Der Hintergrund bleibt schemenhaft.

Allerdings existiert auch ein massiver Unterschied: Die großen Selbstporträts der Kunstgeschichte konservieren die Zeit. Selfies dagegen halten nur einen flüchtigen Augenblick fest. Anders als ein Rembrandt oder van Dyck sehen die meisten schnutenziehenden Menschen, die sich in Selfies verewigen, selbstverliebt und albern aus. Die Schau "Ich bin hier" in Karlsruhe lädt die Besucher ein, sich mit Hilfe eines Fotomaten porträtieren zu lassen und so selbst Teil der Ausstellung zu werden. Und wer weiß: Vielleicht färbt die Qualität historischer Selbstbildnisse auf die Selfie-Künstler ab.