Das Höhlenkloster in Kiew gilt als Jerusalem der orthodoxen Christen
19. März 2009Der Weg zu den Heiligen führt nach unten. Ein paar Meter geht es eine steinerne Treppe hinab, in einen gerade schulterbreiten, niedrigen Gang mit weiß getünchten Wänden. Es ist dämmrig und stickig in dem Stollen. Und still, obwohl hier viele Menschen unterwegs sind. Die Kerzen, die am Eingang verkauft werden, tauchen die Szenerie in ein trübes Licht. In schmalen Nischen rechts und links des Ganges stehen gläserne Särge. Mumien liegen darin, von Kopf bis Fuß eingewickelt in kostbare Samt- und Seidenstoffe.
Über den Toten hängen Ikonen der Heiligen. Gläubige bekreuzigen sich, manche beten stumm, Frauen mit Kopftüchern beugen sich zu den Heiligen hinunter und küssen die Särge. Ulrike ist zum ersten Mal in den Höhlen. "Es ist sehr eng und sehr intim. Man ist sofort dazu bereit, sich vorsichtig zu bewegen und die Stimme zu senken", sagt sie. "Ich glaube, die Leute, die hier hinkommen, haben ein ernstes und gläubiges Anliegen."
Unterirdische Refektorien
Oben an der frischen Luft führt die Fremdenführerin Natalia durch den ältesten Teil des Klosters, das hier "Lawra"“ genannt wird. Im Jahr 1051 kamen die ersten Mönche nach Kiew, um das Christentum im ostslawischen Raum zu verbreiten. Um sich ganz auf Gott zu konzentrieren, lebten die frommen Männer in natürlichen Höhlen am Ufer des Dnepr.
"Die Mönche haben in den Höhlen unterirdischen Wohnzellen, Kirchen und ganze Speisesäle, so genannte Refektorien, ausgegraben", erklärt Natalia. "Als sie vom Großfürsten dieses Gelände und Geld geschenkt bekamen, bauten die Mönche ganz schnell die ersten Holzbauten und die Höhlen wurden zur Begräbnisstätte, zum Friedhof des Klosters."
Legenden und Wunderkräfte
Doch schon bald wurde es auf dem unterirdischen Friedhof zu eng. Daher lösten die Mönche viele Gräber nach einiger Zeit wieder auf. Dabei bemerkten Sie etwas Seltsames: Manche Körper verwesten nicht, sie trockneten ein, wurden zu Mumien, auch ohne Einbalsamierung. "Bis jetzt kann die Wissenschaft nicht klären, warum einige Leichen erhalten blieben. Die Kirche dagegen erklärte den Vorgang als Gabe Gottes", sagt Natalia. "Sie sagte: 'Gott hat diese Körper aufbewahrt um uns zu zeigen, dass diese Mönche heilig waren'."
Schriftsteller, Ikonenmaler, Chronisten und berühmte Ärzte: insgesamt 122 Heilige liegen in den Kiewer Höhlen. Unzählige Legenden ranken sich um ihre Wunderkräfte. Natalia zieht ein kleines Plastikfläschchen aus der Handtasche. "Hier liegt Agapit - das ist einer der Gründer des Krankenhauses. Auf seinem Sarg stehen geweihte Öle. Sie besitzen große Heilkraft. Kopfschmerzen zum Beispiel gehen damit sofort weg – wenn sie daran glauben. Den Glauben muss man selbstverständlich haben."
Fünf Millionen Backsteine
Weil der Glaube bekanntlich Berge versetzen kann, wuchs über den Höhlen über die Jahrhunderte ein prachtvolles orthodoxes Kloster mit Kirchen, Wohngebäuden, Krankenhaus, Druckerei und einem fast 100 Meter hohen Glockenturm. Golden leuchtet seine Kuppel in der Sonne. Alle 15 Minuten erklingt eine zarte Melodie. Zur vollen Stunde schlägt eine mächtige Stundenglocke.
Natalia legt den Kopf in den Nacken. "Dieser Glockenturm wurde in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts errichtet", erklärt sie. "Damals war er das höchste Gebäude in ganz Russland." Fünf Millionen Backsteine wurden in ihm verbaut. Der Deutsche Johann Gottfried Schädel aus Hamburg, das erzählt Natalia besonders gern, hat den Turm entworfen.
Malereien ukrainischer Meister
Neben dem Glockenturm steht die Hauptkirche des Kiewer Höhlenklosters, ihre sieben goldenen Kuppeln blitzen wie neu. Und das sind sie auch. Die Maria-Himmelfahrts-Kathedrale wurde im Zweiten Weltkrieg gesprengt und erst vor einigen Jahren wieder aufgebaut. Derzeit bemalen Künstler die Wände im Inneren. Die Türen bleiben geschlossen.
Darum führt Natalia ihre Gäste an ihren Lieblingsort: in die Torkirche direkt über dem Eingang zum Kloster. Im Inneren ist sie über und über mit biblischen Szenen verziert. Die Malereien der ukrainischen Meister wirken viel lebendiger als klassische Ikonen. "Diese bunten, fröhlichen Farben", gerät Natalia ins Schwärmen. "Die Malerei ist nicht flach, sondern dreidimensional, ganz dynamisch und realistisch. Jeder der Dargestellten hat ein eigenes Gesicht und einen eigenen Charakter."
Heilende Wirkung
Genau 30 Jahre arbeitet Natalia schon als Fremdenführerin im Kloster, verrät sie beim Abschied. Einen abwechslungsreicheren Arbeitsplatz kann sich die 56-Jährige auch nach all der Zeit nicht vorstellen.
"„Abhängig von Licht und Jahreszeit ist hier immer alles anders", sagt sie. "Ständig findet man etwas, was man vorher so noch nicht gesehen hat: irgendwelchen Schmuck, den man viele Jahrzehnte einfach nicht bemerkt hat." Außerdem sei der Aufenthalt in den Klöstern sehr gut für die Gesundheit. Auch wenn man einfach nur still auf einer Bank sitze, schon nach kurzer Zeit merke man, dass es wirkt. Wenn man daran glaubt…
Autor: Clemens Hoffmann
Redaktion: Sandra Voglreiter