Das Klagelied vom Ingenieurmangel
22. März 2014Studium zu Ende und dann der Bewerbungsmarathon? Von wegen! Wer wirklich ganz sicher gehen wollte, nach der Uni einen gut bezahlten Job zu bekommen, der hat sich für ein ingenieurwissenschaftliches Studium eingeschrieben. Und diese Rechnung ging jahrelang auf. "Noch vor sieben Jahren war die Nachfrage nach Absolventen der Rheinisch Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen sehr groß. Wir haben uns teilweise gewundert, wie schnell die Absolventen von der Hochschule abgegriffen wurden und zu welchen Konditionen eingestellt wurden", erzählt Anja Robert, die Leiterin des Karriere Centers an der RWTH Aachen. Und heute?
Mangel, sagt die Wirtschaft
Seit rund zehn Jahren klagen die Unternehmen laut über einen Mangel an Ingenieuren. Auch heute gebe es immer noch nicht genug Ingenieure, meint Oliver Koppel, Arbeitsmarktexperte vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW). Auf der einen Seite drängten jährlich etwa 60.000 Absolventen ingenieurwissenschaftlicher Studiengänge in Deutschland auf den Arbeitsmarkt, auf der anderen Seite würden rund 80.000 Ingenieure von Unternehmen gesucht werden.
Ähnlich schätzt der Verband deutscher Ingenieure (VDI) die Situation auf dem Arbeitsmarkt ein. Es gebe immer noch einen Engpass, wenn er auch nicht mehr in der Schärfe wie noch vor ein zwei Jahren, sagt Marco Dadomo vom VDI. Durch die Verkürzung der Gymnasialzeit und den Wegfall der Wehrpflicht würden zurzeit überdurchschnittlich viele junge Absolventen von den Hochschulen kommen. Trotzdem: "Wir hatten im Dezember vergangenen Jahres einen ungefähren Anteil von 60.000 offenen Stellen in Deutschland und einen Anteil von ungefähr 20.000 arbeitslosen Ingenieuren. Das heißt also, wir haben immer noch eine erhebliche Zahl an offenen Stellen in Deutschland, die nicht besetzt werden können", so Dadomo.
Realitätscheck
Große Nachfrage, offene Stellen - in einer solchen Marktlage müssten sich die frisch gebackenen Ingenieure eigentlich ihre Arbeit aussuchen können. Dem sei aber nicht so, sagt Anja Robert vom der RWTH Aachen. "Von Studierenden wird uns häufiger zurückgemeldet, dass sie zum Teil sehr erstaunt sind, wie lange manche Bewerbungsprozesse dauern und auch wie viele Bewerbungen sie schreiben müssen. Die Studierenden haben den Eindruck, dass Unternehmen gerade nicht so massiv Uni-Absolventen rekrutieren."
Oder doch zu viele Ingenieure?
Wie passt das aber mit den Klagen über einen Mangel an Ingenieuren zusammen? Von Seiten der Unternehmen mache die Klage über Fachkräftemangel schon Sinn, so Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaft (DIW). Sie hätten zum einen dazu geführt, dass die Einwanderung von Hochqualifizierten erleichtert wurde und zum anderen, dass vermehrt junge Menschen ein Ingenieurstudium aufgenommen hätten. Für die Arbeitgeber ist das nur gut, denn sie können dadurch aus einem Heer gut ausgebildeter Bewerbern wählen. Die Aussagen des VDI erklärt er sich damit, dass der VDI nach seiner Ansicht ein Sprachrohr der Industrie sei. Und auch das IW steht den Arbeitgebern nahe, da es von Verbänden und Unternehmen der privaten Wirtschaft finanziert wird.
Im Gegensatz zum VDI und IW behauptet Brenke: "Einen Ingenieurmangel gibt es nicht!" Dafür führt er mehrere Belege an. "Zum einen sind die Löhne der Ingenieure in den letzten Jahren nicht besonders stark gestiegen." Wenn aber etwas knapp werde, in diesem Fall Ingenieure, müssten eigentlich die Preise - also die Löhne - steigen. Außerdem habe es in den letzten Jahren einen regelrechten Run auf die Hochschulen besonders in die ingenieurwissenschaftlichen Fächer gegeben. "Wir bilden derzeit doppelt so viele Personen in Ingenieur-Berufen aus wie in der Zeit Mitte der 70er bis Mitte der 80er Jahre." Also zu jener Zeit in der die Menschen ausgebildet wurden, die jetzt altersbedingt langsam den Arbeitsmarkt verlassen. "Das heißt, für einen Ersatz ist rein rechnerisch mehr als reichlich gesorgt und die Entwicklung an zusätzlichen Ingenieuren war nicht besonders stark in den letzten Jahren."
Gegen eine Knappheit auf dem Arbeitsmarkt spreche außerdem, dass es auch in den Ingenieur-Bereichen immer mehr Leiharbeit gebe, ergänzt Brenke. Wären Arbeitskräfte in diesem Bereich knapp, dann würden die Unternehmen die Arbeitskräfte fest an sich binden und nicht auf Leiharbeit setzen. Aus den von ihm untersuchten Zahlen leitet Brenke ab: Statt einem Ingenieurmangel gebe es vielmehr eine Ingenieurschwemme. Er schätzt den jährlichen Bedarf an Ingenieuren auf 35.000 Personen pro Jahr. In den industrienahen ingenieurwissenschaftlichen Fächern würden rund 50.000 Hochschulabsolventen gegenüberstehen.
Beim IW wird dagegen Brenke dafür kritisiert, dass er nur die Ingenieure berücksichtigt, die auch als Ingenieure arbeiten. Professoren oder Geschäftsführer beispielsweise, die ebenfalls ein Ingenieurstudium haben müssten, würden beim DIW nicht auftauchen, entgegnet Oliver Koppel vom IW.
Mittelweg
Fragt man bei den Unternehmen nach, sprechen zumindest die Branchengrößen wie Bosch und Siemens nicht von einem Mangel. Sie hätten momentan kein Problem, Stellen im Ingenieurbereich zu besetzen, heißt es. Beide Unternehmen führen das aber nicht auf eine Schwemme zurück, sondern unter anderem auf ihren guten Ruf, der sie zu einem beliebten Arbeitgeber macht und auf die frühe Einbindung von Studenten ins Unternehmen.
Schwierigkeiten, offene Stellen zum Beispiel im Bereich Maschinen- und Fahrzeugtechnik oder der Mechatronik und Automatisierungstechnik zeitnah zu besetzen, seien vor allem bei kleinen und mittleren Betrieben im vergangenen Jahr zu beobachten gewesen, heißt es von Ralf Beckmann von der Arbeitsagentur. Alles in allem zeichne sich aber aus Arbeitgebersicht im Vergleich zum Vorjahr eine leichte Entspannung der Fachkräfteengpässe ab. Eine Ingenieurschwemme scheint sich auch nicht in den Zahlen der Arbeitsagentur abzuzeichnen. Denn "insgesamt spielt sich die Arbeitslosigkeit im Ingenieurbereich 2013 auf einem Niveau ab, bei dem man von Vollbeschäftigung spricht", so Beckmann.
"Ich glaube, beide Extreme, also ein riesiger Fachkräftemangel und eine Ingenieur-Schwemme sind ein bisschen an der Realität vorbei", meint Anja Richter von der RWTH Aachen. Ihrer Meinung hach hat sich der Ingenieur-Arbeitsmarkt nach einem Mangel in der Vergangenheit inzwischen ganz einfach normalisiert. Die Absolventen würden alle eine Job finden, es dauere einfach nur ein bisschen länger, als die Ingenieure das vielleicht in den letzten fünf bis sieben Jahren gewohnt waren. "Jetzt muss ein Maschinenbauer auch mal fünf bis zehn Bewerbungen schreiben und auch mal ein viertel oder ein halbes Jahr suchen, bis er wirklich die Stelle gefunden hat, die er haben will. Also eigentlich alles ganz normal."